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Das Singen der Lämmer

Vorläufige Annäherungen an ein Musiktheater von Olga Neuwirth und Elfriede Jelinek
Wolfgang Fuhrmann, Standard, Kultur/Zeitgeschichte, 19. Juni 1999

Tot ist die Oper, und kann doch nicht sterben. So fristet sie ihr Wiedergänger-Dasein allnächtlich in düsteren Gründerzeitbauten, fletscht ihr Werwolfsgebiß in rotem Samt, saugt ihren entsetzt-faszinierten Opfern die letzte Lebenskraft aus: auf daß ihnen der künstliche Gefühlsrausch zur zweiten Natur werde und das hohe C zum Vitamin. Als letzter Spuk des längst vergangenen bürgerlichen Zeitalters huscht das Phantom der Oper an allen Budgetkrisen und erweiterten Kulturbegriffen vorbei und sucht, wen es verschlingen kann.

Zu seinen Lieblingsopfern zählt die Moderne. Es braucht nicht viele Finger, um die Werke des 20. Jahrhunderts abzuzählen, die es ins Repertoire geschafft haben: ein unermüdliches Uraufführungskarussell bringt routinemäßig Totgeburten hervor. Was liegt also näher, als das Wiedergängertum dadurch zu bannen, indem frau es zum Thema der Oper selbst macht?

Zum Untoten, Ungeheuren hat die Komponistin Olga Neuwirth von jeher ein gutes Verhältnis. Alles überwuchernde Schlingpflanzen, die Tiefseekrake Vampyrotheutis infernalis und William Burroughs' Alien-Mafia Nova Mob haben in ihren Werken schon ihr Unwesen getrieben. In Neuwirths Musik mischt sich die Lust am Grotesken, Grausigen, Trashigen mit Sinn für trickfilmhaft rasanten und derben Humor (so sehr sich die aufs feinste ausdifferenzierten Partituren schnellen Oberflächeneffekten widersetzen).

Was also darf das p. t. Festwochenpublikum erwarten, wenn es in den Sofiensälen der Uraufführung oder den Folgevorstellungen von Olga Neuwirths Bählamms Fest beiwohnt? Wiedergängerisches. Zu sehen bekommt es unter anderem einen Diener, der zugleich ein Hund ist. Einen Liebhaber, der zugleich ein Wolf ist. Ein gekochtes Goldfischpärchen. Schmeißfliegen, denen man die Flügel ausgerissen hat. Und natürlich jede Menge Lämmer, die ihr Fest feiern und ihren schwarzen Schafstar Mary ("Määh-ri!") umjubeln, bis das Fest sein blutiges und panisches Ende findet.

Wenn sich in dieser Szene plötzlich Glamour mit Entsetzen mischt, Showbusiness mit Schlächterei, dann bricht die düstere zeitgeschichtliche Folie durch, vor der Leonora Carrington, die 1917 geborene britische Malerin und Schriftstellerin, ihr Stück verfaßte: Als 1940 die deutschen Truppen sich bedrohlich schnell Südfrankreich nähern und Carringtons Lebensgefährte, der Maler Max Ernst, als Deutscher in einem französischen Konzentrationslager interniert wird. Später flieht Carrington nach Spanien, wo sie zu der Überzeugung gelangt, daß "Hitler und Co." die Welt hypnotisiert hätten. Sie wird zeitweilig in eine Irrenanstalt eingeliefert (Ereignisse, die sie in ihrem Bericht Unten wiedergibt); heute lebt sie in New York.

Läßt sich Carringtons Drama Das Fest des Lammes so als Dokument einer Krise verstehen, in der nur der persönliche, nicht der kollektive Wahnsinn interniert wurde? Oder handelt es sich, wie Elfriede Jelinek vermutet, die das Libretto nach Carringtons Drama Das Fest des Lammes eingerichtet hat, auch um die Aufarbeitung der Beziehung zum dominierenden Vater (der seine "verrückte" Tochter mit einem U-Boot nach Südafrika, aus den Augen der Gesellschaft verschicken wollte!), ein "hochsurrealistisches Traumstück mit psychoanalytischen Subtexten"?

Carringtons Drama ist ein offenes Kunstwerk in dem Sinne, daß es verschiedene Lesarten - politische, freudianische, jungianische, christliche (die Opferung eines Lamms!) etc. - nicht nur zuläßt, sondern geradezu provoziert. Olga Neuwirth hat die Handlung als "ein perverses Familiengeflecht voll innerer und äußerer Kälte in einer hermetisch abgeschlossenen, heideartigen Gegend", den Handlungsort Haus Carnis als "Schutzraum und Tollhaus zugleich" charakterisiert: "Hier ist man sich nah und grausig fremd".

Während des Arbeitsprozesses notierte Neuwirth den Ausbruchsversuch einer jungen Frau aus gesellschaftlich einengenden Normen als ein mögliches Zentrum des Werks: Flucht zurück in die Kindheit ebenso wie als wölfische Anverwandlung des ganz anderen. Leonora Carrington, die sich selbst bei einem Ball visionär als Hyäne wahrnahm, die in Unten beschreibt, wie sie sich zu einer Gruppe von Pferden "gesellt" und "mit ihnen Zärtlichkeiten" austauscht, hat dieses Andere der Tiere gefeiert in der Liebesbeziehung der jungen Ehefrau Theodora zu dem Bruder ihres Mannes, dem Werwolf Jeremy.

Olga Neuwirths Faszination am polymorph Perversen, schillernd Unzurechenbaren, das sich zuletzt etwa in einer Hommage an den großen Androgynen Klaus Nomi für die Salzburger Festspiele niederschlug, wird in Bählamms Fest vielfältig hörbar. Am Grazer Institut für Elektronische Musik hat Neuwirth für die Figur des Jeremy das Timbre kanadischer Wölfe analysiert und herausgefunden, daß sie der Stimmlage eines Countertenors entsprechen (und, wie dieser, senza vibrato singen). So wird sich die Stimme von André Watts bruchlos in die eines Wolfs verwandeln - dank voice morphing. Und der Diener/Hund Henry - der, wie in einer Szene angedeutet wird, den Wolfsmenschen Jeremy mit der Hausherrin Mrs. Margret Carnis gezeugt hat - kann seine Sprechstimme mit livelektronischer Verfremdung in das Bellen und Winseln eines Hundes übergehen lassen.

Überhaupt umfaßt das elektronische Instrumentarium neben sehr subtilen, sich im Raum bewegenden Klängen auch bewußt Trashiges, billig Klingendes. Und die greise, eitle Mrs. Carnis wird von dem leicht verstaubten, nostalgieerweckenden Singen einer Theremin Vox begleitet, des ersten elektronischen Instruments in Massenproduktion, bekannt auch aus Miklos-Rózsa-Soundtracks der vierziger Jahre. (Neuwirth hat selbst auf diesem Instrument schon einmal mit Fred Frith konzertiert.)

Herzstück von Bählamms Fest aber ist die symbolische Rückkehr in die Kindheit, Theodoras tägliche Flucht in das Kinderzimmer. Olga Neuwirth, in deren Werken bei aller kompositorischer Sorgfalt auch immer wieder eine ganz elementare Lust am Krachmachen durchschlägt, die gerne Kindertrompeten, Ratschen und anderes unseriöses Instrumentarium verwendet, verfolgt hier beinahe naturalistisch-illustrative Ansätze: Eine Spieluhr zitiert das alte jiddische Lied "Kinderjoren, schejne Kinderjoren". Gespenster des Kinderzimmers treten auf: ein mittels einer elektronisch verfremdeten Piccoloflöte zirpender Kanarienvogel, tuschelnde flügellose Stubenfliegen, sie alle einst von der alten Mrs. Carnis, als sie noch jung war, zu Tode gequält. Wie in der großen Kinderzimmeroper des 20. Jahrhunderts, Maurice Ravels L'enfant et les sortilèges, mischen sich auch hier die elementaren Erfahrungen kindlicher Magie und Grausamkeit.

Aus der Kinderperspektive, dem ängstlich-genußvollen Vergnügen am Unheimlichen und Phantastischen: So kann, so soll man vielleicht Bählamms Fest auch verstehen. "Wir lieben ja beide diese gothic novels", erläutert Elfriede Jelinek, "etwa Poes The Fall of the House of Usher, die Zwischenbereiche und Zwischenexistenzen." Als einen "Fall des Hauses Carnis" möchte Neuwirth auch ihr Musiktheater verstanden wissen, bewußt für das Jahr 1999 komponiert, dem untoten Genre Oper mit nekrophiler Zärtlichkeit begnend.

Nur mit dem Unterschied, daß hier nach der Katastrophe das Leben weitergeht. Zwar könnte auch über Bählamms Fest die Einsicht aus Doderers Repetitorium stehen "Wer sich in Familie begibt, kommt darin um", aber Theodora, die Hauptheldin, überlebt den Tod ihres Geliebten, flüchtet sich auch nicht in den Wahnsinn, jenen "Un-Ort, der Frauen gewöhnlich in der Oper zugestanden wird" (Neuwirth).

In einer gegenüber der Vorlage ergänzten Filmszene sieht man das Altern der Wolfsfrau. Dieses Überleben der Liebes-Katastrophe ist inspiriert von einem Aufsatz der amerikanischen Psychoanalytikerin Muriel Gardiner. In The wolfman grows older berichtete Gardiner vom Weiterleben jenes Patienten, der als "Wolfsmann" durch Freuds Studie zu Weltruhm gelangt ist, beschrieb das Altern eines "Falls", der seinen Analytiker überlebte und "zufrieden seine Neurose bis ins hohe Alter gelebt hat" (Jelinek).

Auch Carrington hat für die Gier nach Jugendlichkeit nichts übrig. Im Vorwort zu Unten schrieb sie: "Ich werde nie in einer ,Jugend' versteinern, die es nicht mehr gibt - Ich akzeptiere meinen gegenwärtigen Zustand ehrenwerten Verfalls - [. . .] Wenn die jungen Leute mir heute sagen, daß ich einen jungen Geist habe, fühle ich mich beleidigt - Ich habe einen alten Geist - Versuchen Sie, das zu verstehen -" []

Bählamms Fest: 19.-21., 23.-25. Juni, 20 Uhr, in den Sofiensälen, 1030 Wien. Regie: Nick Broadhurst, Dirigent: Johannes Kalitzke Kartenbestellungen: 01-589 2211 und 01-589 2222.

© 2000, zuletzt geändert am 8. Februar 2000.


Last modified 03.01.2007