Composing Space. The Use of Audio Augmented Environment Technology
In den musikalischen Kunstgattungen ist der Raum ein wesentliches formbildendes Element, ein zentraler Bedeutungsträger. Bei Klanginstallationen tritt die Raumkomponente oft besonders stark gegenüber der zeitlichen Strukturierung in den Vordergrund. Aber auch im traditionellen Konzertbetrieb der neuen und elektroakustischen Musik verweisen Bezeichnungen wie "Raummusik" oder der Einsatz von "Raumklangsystemen" auf diese Prioritätenverschiebung innerhalb der musikalischen Gestaltungskategorien.
Die Darstellung der Raumkomponente bei der Aufführung kann auf verschiedene Weisen erfolgen: etwa durch im Raum verteilte Instrumenten- oder Lautsprechergruppen oder mittels diskreter klingender Objekte, die besonders in Installationen auch skulpturale Qualitäten haben können. Für die Aufführung elektroakustischer Musik werden seit den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts Wiedergabesysteme entwickelt, deren technische Komplexität weiter zunimmt. Gegenwärtig konzentriert sich diese Entwicklung auf Simulationssysteme, mit denen reale oder konstruierte Schallfelder perfekt synthetisiert werden sollen, und die möglichst keine optimale Hörerposition ("sweet spot") mehr voraussetzen. Hier stehen sich als jüngste Tendenzen die Wellenfeldsynthese und Binauralsysteme gegenüber.
Gegenüber der Wellenfeldsynthese wird in Binauralsystemen versucht, die technologischen Probleme der räumlichen Klangprojektion personalisiert zu lösen, also für jeweils einen Hörer speziell angepaßte akustische Bedingungen zu schaffen. Die dafür benötigten Technologien, wie Trackingsysteme, Szenenbeschreibungen und Raumakustiksimulationen, verweisen gleichzeitig auf das Gebiet der virtuellen und erweiterten Realität (VR/AR). Damit eröffnen sie Gestaltungsmöglichkeiten für die künstlerische Produktion, die weit über die eigentliche räumliche Klangprojektion hinausreichen. Denkbar sind deformierte virtuelle Akustiken, erweitere Interaktionsformen von Hörern mit dem System und untereinander sowie Überlagerungen des virtuellen akustischen Raums mit dem visuellen und akustischen Realraum. Deshalb werden solche Binauralsysteme in dieser Dissertation als die Apparate angesehen, die für die künstlerische Gestaltung die weitreichendsten technologischen Angebote unterbreiten.
Bei der Anwendung von Raumklangsystemen in der künstlerischen Produktion läßt sich oft feststellen, daß ihre technologisch zugesagten Eigenschaften für den Rezipienten nicht erfahrbar sind. Bei Binauralsystemen bezieht sich dies allgemein auf die Plausibilität einer klanglich-räumlichen Situation, speziell etwa auf die konsistente Ortbarkeit von statischen oder bewegten Quellen oder auf Interaktionsmuster, die sich dem Hörer nicht intuitiv erschließen. Diese Unzulänglichkeiten werden gegenwärtig meist als technologische Probleme gewertet. Viele Lösungsansätze verfolgen daher die Verbesserung der Apparate, während die ästhetische Motivation des Umgangs mit den Apparaten häufig unbeachtet bleibt.
Diesem Dissertationsprojekt liegt die Vermutung zugrunde, daß die künstlerische Arbeit mit hochtechnisierten Wiedergabesystemen gegenwärtig von deren technologischen Versprechungen dominiert sind, daß also idealisierte technische Sachverhalte gewissermaßen zirkulär zu ästhetischen Zielsetzungen umgedeutet werden. Dagegen zeigen Erfahrungen mit älteren Technologien, so etwa der Stereophonie oder dem Surround-Verfahren, daß sich ihre künstlerische Anwendung an der auditiven Wahrnehmung orientieren muß. Die Raumkomponente einer Komposition kann erst dann erfolgreich dargestellt werden, wenn der Vorgang der Klangprojektion nicht als Abbildung, sondern als zu gestaltende Transformation begriffen wird. Das Versprechen, um eine solche ästhetisch motivierte Transformationsleistung herumzukommen, dient dennoch immer wieder als Alleinstellungsmerkmal eines jeden neu entwickelten Raumklangsystems. Dieses Versprechen scheint auch von der künstlerischen Seite wohlwollend aufgenommen, wenn nicht gar eingefordert zu werden.
Ziel dieses Dissertationsprojekts ist die Entwicklung von Verfahrensweisen, die die Evaluation von technischen Systemen zur räumlichen Klangprojektion hinsichtlich ihrer ästhetischen Erschließung ermöglichen. Exemplarisch soll am Beispiel des Binauralsystems LISTEN das Verhältnis seiner technischen Beschaffenheit zur ästhetisch motivierten, künstlerischen Arbeit mit ihm untersucht werden. Als Referenz sollen dabei radiophone Kompositionen für das stereophone Wiedergabesystem dienen, da dieses Medium sowohl von der Produktions- als auch von der Rezipientenseite umfangreich erschlossen und erforscht ist.