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Beiträge zur Elektronischen Musik 5

2. Zur Theorie der Strukturgeneratoren

Die in der seriellen Theorie aufgeworfenen Fragen ziehen eine neue Sichtweise des musikalischen Kunstwerks nach sich. Dieses wird nun nicht mehr als einmaliger ”Spezialfall” gesehen, vielmehr aber als eine von mehreren Realisierungsmöglichkeit innerhalb vorgegebener Grenzen (“constraints”). Wenn Musik nicht länger als Ikone, sondern als Modell gedacht wird, wendet sich der Blick zunächst von der sinnlichen Oberfläche (dem “Besonderen”) ab und dringt ein ins Verborgene, “Allgemeine”, Abstrakte: in die Zusammenhänge im Inneren eines Kunstwerkes. Diese können nun als abstraktes Modell beschrieben werden, als Gefüge von Kräften und Steuerungsmechanismen. Dieses Denken zielt darauf ab, die die Musik hervorbringende “Tiefenstruktur” (im Sinne der generativen Grammatik von Noam Chomsky) als Algorithmus zu beschreiben.

2.1. Struktur

Das Wort “Struktur” bedeutete ursprünglich “Gefüge” und bezeichnete im römischen Bauwesen den Modus, nach welchem Steine aufgeschichtet wurden. Hier geht es also um einen Beziehungszusammenhang – die Art und Weise, wie Materialien miteinander in Relation gebracht werden.

Eine philosophisch-semantische Interpretation findet sich bei Merleau-Ponty: “Struktur ist die unlösliche Verbindung zwischen einer Idee und einer Existenz, das kontingente Arrangement, durch das Materialien vor unseren Augen einen Sinn annehmen.”29 Sein Strukturbegriff zielt also nicht auf etwas Abstraktes, sondern auf eine Aussage, auf einen Sinn.

Helmut Lachenmann wiederum betont den Netzcharakter des Strukturellen, der sich einer “Polyphonie von Anordnungen” verdankt: “Dem Strukturbegriff liegt eine schematische Vorstellung eines charakteristischen Gefüges, eine Art Polyphonie von Anordnungen, einer Zuordnung von wie auch immer gearteten »Familien« zugrunde, deren einzelne Familien-Glieder bei verschiedengradiger Individualität im Hinblick auf den ihnen zugeordneten Charakter als dessen Komponenten oder Varianten zusammenwirken.”30 In dieser Definition klingt ein Aspekt an, der für unser Konzept der Strukturgeneratoren von Bedeutung ist: Struktur entsteht aus dem Ineinanderwirken von hierarchisch abgestuften, miteinander verknüpften Teilaspekten, die – Lachenmann nennt sie “Familien” – in einem Klassenzusammenhang stehen.

Lassen Sie mich nun einen weiteren Aspekt des Strukturellen herausgreifen – den der Gestalt.

2.2. Gestalt

Nehmen wir als Beispiel das Wort »Baum«. Darunter lassen sich verschiedene Gewächse subsummieren, wie Tanne, Buche oder Weide. Der Begriff »Baum« ist zunächst ein Abstraktum: er meint keine bestimmte Pflanze, sondern eine ganze Familie von Pflanzen, die – trotz aller Unterschiede – gemeinsame Eigenschaften – eben eine charakteristische Gestalt – aufweisen. Das Interessante dabei ist, daß wir aufgrund des in uns implementierten Modells »Baum« auch Baumformen denken können, die in der Realität gar nicht existieren. Dies wurde vor 200 Jahre bereits von Goethe beobachtet, der seinem Freund Herder über die Idee der Urpflanze schreibt:

“Die Urpflanze wird das wunderlichste Geschöpf von der Welt, um welches mich die Natur selbst beneiden soll. Mit diesem Modell und dem Schlüssel dazu kann man alsdann noch Pflanzen bis ins Unendliche erfinden, die konsequent sein müssen, das heißt, die, wenn sie auch nicht existieren, doch existieren könnten und nicht etwa malerische und dichterische Schatten und Scheine sind, sondern eine innerliche Wahrheit und Notwendigkeit haben. Dasselbe Gesetz wird sich auf alles übrige Lebendige anwenden lassen.”31

Die Eigenschaften eines Baumes werden durch ein Modell – ein Inbegriff von Strukturmerkmalen – bestimmt; eine konkrete Form (z.B. Fichte) kann auch als Strukturvariante dieses Strukturmodells »Baum« beschrieben werden. Das ließe sich gleichermaßen auch auf Musik übertragen: ein bestimmtes Modell (als Beschreibung einer kompositorischen Gestalt) würde die Generierung tausender verschiedener Varianten, ganz im Sinne der Urpflanze, erlauben.

2.3. Modellbildung – Computer Aided Composition

Wenn wir nun in der Lage sind, einen Baum im Sinne eines Modells zu beschreiben, dann könnte dieses Modell auch als Generator implementiert werden, der zwar keine echten Bäume, aber die verschiedensten Bilder von Bäumen erzeugen kann. Die geeignete Umsetzung wäre ein Computerprogramm, das aufgrund des implementierten Modells durch Veränderung der Parameter neue Baumformen generiert. Solche Software existiert bereits und erlaubt nicht nur die Herstellung pflanzlicher Artefakte32, sondern auch von Wolkenformationen, Landschaften und Oberflächentexturen.33

Das gleiche Prinzip – nunmehr auf musikalische Komposition angewandt – stellt eine meiner zentralsten Arbeitsmethoden dar. Das Modell beschreibt strukturelle Verknüpfungen und die Steuerparameter, die zur Erzielung einer bestimmten musikalischen Gestalt notwendig sind.

2.4. “Instrument”

Ein solches Modell kann auch als »Instrument« aufgefaßt werden, auf dem der Komponist, der es zuvor selbst gebaut hat, spielt. So ist dieser nicht nur Tönesetzer, sondern zugleich Instrumentenbauer, Instrumentalist und Spracherfinder. Helmut Lachenmann hat in diesem Zusammenhang von der Analogie zum Orgelwerk gesprochen: “Bildlich gesprochen heißt Komponieren dann nicht nur: auf einem persönlich geprägten Instrumentarium spielen, sondern daraus ein unverwechselbares Instrument, ein »Werk« bilden, dessen Traktur durch die spezifische Anordnung und Gestaltung nicht nur der »Manuale« (der »Familien«), sondern auch der »Tasten« (der »Familienmitglieder«) so eindeutig präzisiert ist, daß der Vorgang, in dem sich das »Werk« offenbart, als eine Art »Abtastprozeß« im Grunde mit einem »Arpeggio«, wenn auch in vielfach gefächerter Variante, vergleichbar ist. »Instrument«, »Werk« und »Spiel« fallen dann in eins zusammen.”34
Letztlich wird Abschied genommen von einer hermetischen Strukturvorstellung: “Musik hat Sinn doch nur, weil sie über ihre eigene Struktur hinausweist auf Strukturen – das heißt: Wirklichkeiten und Möglichkeiten – um uns und in uns selbst.”35

2.5. Strukturgeneratoren

Wie sich dies in der Praxis gestalten kann, möchte ich nun am Beispiel eines Strukturgenerators erläutern, der Triller generiert.
Ein Triller im traditionellen Sinn besteht aus dem schnellen Alternieren zweier benachbarter Skalentöne. Nun läßt sich das Prinzip des Trillers aber erweitern: es bleibt bei der raschen Bewegung, nur können jetzt aber mehr als 2 Töne auftreten, die zur Vermeidung von repetitiven Mustern jedoch nicht zyklisch durchlaufen, sondern unregelmäßig permutiert werden. Neben der Dauer eines Trillers ist auch seine Geschwindigkeit als variabel zu denken, und zudem können auch Geschwindigkeitsveränderungen (ritardandi, accelerandi) auftreten. Als letzter Parameter kommt noch der Dynamikverlauf dazu: an- und/oder abschwellend oder eine komplexere Hüllkurve.
Das Modell dieses Triller-Generators basiert auf einem Satz von Parameterlisten, aus denen ausgewählt werden kann.

               Dauer             <min> bis <max> in <Anzahl> Schritten              
       Anfangs-Tempo             <max> bis <min> in <Anzahl> Schritten              
           End-Tempo             <max> bis <min> in <Anzahl> Schritten              
         Anzahl Töne                          <2> bis <12>                          
                Töne      Auswahl von <Anzahl der Töne> innerhalb einer Oktave      
        max. Dynamik                        <min> bis <max>                         


Das Trillertempo wird sich – im Falle von Instrumentalmusik – am menschlichen Maß orientieren. Als Untergrenze käme ein entsprechend langsamer Wert in Frage, der eben noch gerade das Gefühl von Triller vermittelt. Hier aber wird das Modell durchlässig: verlangsamt man das Trillertempo immer weiter, verschwindet mit einem Mal der Trillercharakter und ein neuer qualitativer Zustand entsteht, der – abhängig von der Anzahl der Töne – als Akkordzerlegung oder Melodiefloskel erlebt werden kann.
Die Parameter eines Strukturgenerators können nun von einer äußeren Instanz gesteuert werden. Dieser “Steuermann” kann entweder ein Mensch sein, der seine Vorstellungen ausdrücken will, oder aber eine “Maschine” (Computerprogramm, Algorithmus).
Die Parameter können
- starr fixiert sein (“Preset”),
- seriell permutiert (Permutationsalgorithmus) werden,
- aleatorisch bzw. stochastisch gelenkt werden (Zufallsoperationen innerhalb definierter Grenzen),
- gerichtet oder ungerichtet verändert werden,
- an kausale Mechanismen gebunden sein oder auch nicht,
- chaotischen Mechanismen (Autopoïese) unterworfen sein.36
Auf diese Weise läßt sich ein weites Feld von Strukturvarianten erzeugen, dessen Variabilität durch die verschiedensten Methoden gesteuert werden kann.
Ein Strukturgenerator (wie der eben beschriebene Triller-Generator) existiert zunächst als reines Gedankenkonzept, das erst in einem weiteren Arbeitsschritt seine Umwandlung in ein Computerprogramm erfährt. Die Wahl der Programmiersprache spielt dabei eine nicht unwesentliche Rolle, wenngleich sich die meisten Algorithmen in (fast) jeder formalen Sprache beschreiben lassen. Soll jedoch der Strukturgenerator Resultate in Echtzeit liefern, ist man in der Wahl der Mittel schon sehr eingeschränkt. Aus diesem Grund habe ich mich hier auf die Programmiersprache MAX37 konzentriert: eine interaktive graphische Entwicklungsumgebung für Echtzeit-Applikationen. Im Unterschied zu Fertiglösungen wie kommerziellen Software-Sequenzern oder Notationsprogrammen handelt es sich hier um eine Programmiersprache, in der eigene musikalische Applikationen geschrieben werden können.
In MAX habe ich nun die sog. “Real Time Composition Library” entwickelt, die die Programmierung von Strukturgeneratoren auf höchster Ebene gestattet. Die Benutzeroberfläche des eben beschriebenen Triller-Generators würde darin folgendermaßen aussehen:


Abb. 2: Benutzeroberfläche eines Triller-Generators

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29 Maurice Merleau-Ponty, Die Struktur des Verhaltens (Berlin 1976).
30 Helmut Lachenmann, Bedingungen des Materials. Stichworte zur Praxis der Theoriebildung; in: Darmstädter Beiträge XVII (Mainz 1978), S. 94-95.
31 Johann Wolfgang von Goethe, Italienische Reise: Brief an Herder vom 17. Mai 1787; in: Goethes Werke (Hamburger Ausgabe), hrsg. von Erich Trutz (München 198211), S. 323/324.
32 Anmerkung des Herausgebers: Die mathematische Beschreibung von Pflanzenstrukturen ist unter anderem in der Theorie der Lindenmayer-Systeme formalisiert. Siehe: Prusinkiewicz, Przemyslaw, Hanan, James: Lindenmayer Systems, Fractals, and Plants. - New York: Springer-Verlag, 1989. 2. Auflage 1992.
33 Bryce – Kay's Power Tools for Photoshop. Zu erinnern sei auch an die Lucas Film Ltd., die sich auf computergenerierte utopische Szenarien für Science Fiction Filme spezialisiert hat.
34 nach Helmut Lachenmann, Bedingungen des Materials, a.a.O., S. 95.
35 ebd., S. 99.
36 nach: Helmut Lachenmann, Bedingungen des Materials, a.a.O., S. 95.
37 MAX – An Interactive Graphic Programming Environment by Miller Puckette and David Zicarelli (IRCAM/Opcode 1988-1995)

© 2000, zuletzt geändert am 11. Februar 2000.


Last modified 08.09.2003