Beiträge zur Elektronischen Musik 5
4. Lexikon-Sonate
Eine unendliche und interaktive Realtime-Komposition für computergesteuertes Klavier (1992 ff.)
In einem mit Hilfe der RTC-lib komponierten Werk – der Lexikon-Sonate (1992 ff.) – habe ich versucht, die Klaviermusik seit Johann Sebastian Bach (über Beethoven, Liszt, Brahms, Schönberg, Webern, Stockhausen und Boulez) mit ihren Topoi, Sujets und Klischees geistig zu erfassen und dieses Wissen als Strukturgeneratoren zu implementieren. Da das Werk nicht als Notentext existiert, sondern einzig und allein von einem Computerprogramm in Echtzeit generiert wird, habe ich auch Interpretationsparameter wie Rubato, Espressivo, Phrasierung etc. berücksichtigt.
4. 1. Ausgangspunkte
Die Entstehung des Werkes verdankt sich einem Roman, genauer: dem Lexikon-Roman (1970)52 von Andrea Okopenko. Dieses Buch, das die “sentimentale Reise zum Exporteurtreffen in Druden” (so der Untertitel) zu Inhalt ist, kann nicht wie ein herkömmliches Druckwerk von vorne bis hinten gelesen werden. Seine viele hundert Kapitelchen sind wie in einem Lexikon alphabetisch sortiert. Mittels Verweispfeilen (’) kann der p.t. Leser nun wiederum seine Reise durch das Buch antreten, und sich nach eigenem Gutdünken durch den Text bewegen. Was heute Dank Internet und Web-Browser schon Allgemeingut geworden ist, war damals noch völlig unbekannt. Ja, nicht einmal der Terminus dafür – HyperText – existierte, als Okopenko sein visionäres Werk verfaßte (er wurde einige Jahre später von Ted Nelson “erfunden”).
Die Buchform ist für einen Hypertext freilich das denkbar ungeeignetste Medium. Nur gab es 1970, als das Buch erschien, kaum Computer, geschweige denn World-Wide Web oder Hypertext-Autorensysteme. Deshalb hat sich unter der Federführung von Franz Nahrada ein Gruppe von Computerfachleuten und Medienkünstlern zusammengefunden, die unter dem Namen Libraries of the Mind die elektronische Umsetzung des Lexikon-Romans (als CD-ROM) in Angriff nahm. Okopenko, der selbst dieser Gruppe angehört, hat nun angeregt, seinen Text multimedial zu erweitern, also Bilder, Photos, Klänge und Musik darin zu integrieren.
Ich gelangte 1992 zu den Libraries und wurde mit der Aufgabe betraut, den Musikpart zu gestalten. Nach der ersten Lektüre des Buches wurde mir allerdings rasch klar, daß die ursprünglich vorgesehene Aufgabe – kurze Musikclips für die einzelnen Kapitelchen zu komponieren – nicht zielführend ist. Die Struktur des Buches selbst forderte, so schien es mir, einen gänzlich anderen Weg. Seine potentielle Unendlichkeit und Freiheit der “Wegfindung” – seine explizite Prozessualität – stehen im krassen Widerspruch zur Komposition kleiner, abgeschlossener Einheiten. Außerdem wurde mir bald klar, daß man ein Kapitel auf die verschiedensten Arten lesen kann (andächtig meditierend, flüchtig überschlagend, vor- und zurückblätternd etc.), daß – mit einem Wort – die Verweildauer des Lesers ein unkalkulierbarer Parameter blieb.
Ich wollte nun eine Musik schaffen (nicht “schreiben”), die sozusagen das Leserverhalten des “Benutzers” reflektiert. Wie lange auch immer die Verweildauer in einem Kapitel sein mag: während dieser Zeit ertönt eine charakteristische Musik, die sich jedoch verändert, wenn man zu einem anderen Abschnitt wechselt. Dieser Wechsel sollte aber nicht abrupt erfolgen, sondern Teilaspekte des Vorangegangenen weiterführen. Wie in einem Lexikon, wo der Verweis auf ein ’ Stichwort immer noch einen semantischen Rückbezug bedeutet. Okopenko hat dieses “lexikalische Prinzip” im Vorwort des Lexikon-Romans wunderbar illustriert:
“Wer hat nicht schon im Lexikon, GOLDSCHMINKE nachschlagen wollend, erst einmal den Artikel über GOLDONI, dann den über GOLDREGEN gelesen, dort auf LABURNUM verwiesen, die Einrichtung von LABORATORIEN gestreift, Interesse an der Herstellung eines Chlorkalziumröhrchens gefaßt, das Glasblasen erlernt, dabei einen Wangenriß erlitten, pflasterbeklebt einem Clown geähnelt, nachgedacht, was zum Clown noch fehlte, dabei Blanc und Rouge aufgefunden und so den Gedanken zurückgewonnen, daß er ja GOLDSCHMINKE nachschlagen wollte – was er nun endgültig tat.”53
So begann ich nun peu-a-peu, Topoi aus der Klavierliteratur zu analysieren und sie als Strukturgeneratoren (Module genannt) zu implementieren: Espressivo-Melodien, Akkordstrukturen, Triller54, aber auch idiomatische Typen wie Arpeggi und Glissandi. Jedes dieser Module legt ein charakteristisches musikalisches Verhalten an den Tag und generiert unendlich viele Varianten seines implementierten Strukturmodells.
4.2. Module
An Hand von ESPRIT (einem Generator für Espressivo-Melodien) möchte ich den prinzipiellen Aufbau der Module erläutern.
Abb. 18: Strukturgenerator ESPRIT
- phraser: bestimmt die Dauer einer musikalischen Phrase (aktive Phase) und der daran anschließenden Pause (passive Phase). Der “weight factor” bestimmt die statistische Länge der Aktions (AD)- und Pausendauern (PD)55, wobei folgende Relation gilt:
"weight" Aktionsdauer Pausendauer Ergebnis 1 kurz lang Hintergrund 2 mittel mittel Mittelgrund 3 lang kurz Vordergrund
Damit wird der phraser zu einem Regulator der musikalischen Dichte und – wie wir später sehen werden – zu einem wichtigen formalen Gestaltungsmittel. Mit anderen Worten: der “weight factor” bestimmt den Wahrnehmungsgrad eines Moduls – ob es nun deutlich im Vordergrund zu hören ist, sich bescheiden in der Mitte hält in oder gar im Hintergrund versteckt.
- parameter: nach jeder Pause (also vor Berechnung einer neuen musikalischen Phrase) werden alle Parameter des Strukturgenerators innerhalb der vorgegebenen Grenzen zufällig geändert. Dadurch unterscheiden sich die Phrasen mehr oder weniger stark voneinander. Sie erscheinen als Varianten eines Strukurmodells, sind aber immer als Derivate davon erkennbar.
Abb. 19: Parameter-Patch von ESPRIT
- rhythm: erzeugt während der Dauer einer Phrase eine Folge von rhythmischen Impulsen (“rhythm bangs”). Jeder dieser Impulse markiert den Einsatzpunkt eines Tones, dessen Parameter Tonhöhe, Tonstärke und Tondauer von den folgenden Objekten berechnet werden.
- harmony, dynamic, duration: erzeugen aufgrund eines bestimmten Algorithmus für jeden Einsatzpunkt die entsprechenden Parameterwerte.
- playit: faßt diese Ton-Parameter zusammen und wandelt sie in MIDI-Code um, der von einem angeschlossenen MIDI-Instrument (Player Piano, Sampler, Synthesizer) interpretiert wird.
4.3. Benutzeroberfläche
Zur Zeit besteht die Lexikon-Sonate aus 24 verschiedenen Modulen. Da sie jedoch als “work-in-progress” konzipiert ist, kommen laufend neue dazu.
Abb. 20: Benutzeroberfläche der Lexikon-Sonate
Wir sehen in der Mitte die 24 verschiedenen Strukturgeneratoren, darunter einen sog. conductor, der die Auswahl der Module besorgt, und darunter eine dreistufige “Registerbank”, in der die selektierten Module von oben nach unten eingetragen werden.
Jedem Kästchen der “Registerbank” ist eine Zahl zwischen 1 und 3 zugeordnet – der “weight factor”. In dem obigen Beispiel werden gerade die Module ESPRIT, BROWNCHORD und GLISSANDO miteinander kombiniert, wobei ESPRIT im Vordergrund (3) spielt, BROWNCHORD im Mittelgrund (2) und GLISSANDO im Hintergrund (1). Das unterschiedliche Verhältnis von Aktions- und Pausendauern in den drei Modulen könnte etwa folgender Graphik entsprechen, wobei die schwarzen Kästchen die aktiven Phrasen versinnbildlichen:
Abb. 21: Aktions- und Pausendauern dreier Module
Deutlich hier die lange Phrasen von ESPRIT, garniert von gelegentlichen kurzen GLISSANDI, während sich BROWNCHORD ausgewogen in der Mitte hält.
4.4. Aktions- und Interaktionsmöglichkeiten
Wenn nun ein neues Modul (z.B. TRILLER) vom conductor in die “Registerbank” geschickt wird, rutscht ESPRIT eine Stufe nach unten und erhält den “weight factor” 2. BROWNCHORD wiederum nimmt im untersten Kästchen Platz und bekommt dort den “weight factor” 1 zugewiesen, währenddem GLISSANDO verschwindet.
Wir sehen also, daß bei Aufruf eines neuen Moduls das “älteste” verschwindet, zwei aber erhalten bleiben und mit dem neu dazugekommenen kombiniert werden. Dadurch wird ein gleitender formaler Übergang erzielt.
Der conductor selbst kann auf zwei Arten gesteuert werden: entweder durch einen auto-piloten, der ihn in unregelmäßigen Abständen anweist, eine Aktion zu setzen.56 Oder aber durch den Benutzer, der willentlich entscheiden kann, wann der conductor ein neues Modul auswählen soll.57 Im ersten Fall ist der sog. “toggle” mit der Aufschrift “auto play” einzuschalten, im letzteren wird immer dann, wann eine Änderung gewünscht wird, der Button “choose a module at random” angeklickt.
Anstelle des conductors kann aber auch der Benutzer die Entscheidung treffen, welche Module in die “Registerbank” geschickt werden soll. Er muß dazu nur auf den Button neben dem gewünschten Strukturgenerator klicken.
Darüber hinaus besteht auch noch die Möglichkeit, unter Umgehung der “Registerbank” direkt bestimmte Module auszuwählen und ihnen beliebige “weight factors” zuzuweisen.
4.5. Rezeption
Der Mechanismus einer “Registerbank” erlaubt die Kombination von drei verschiedenen Modulen, wobei jedes einen bestimmten Grad von Präsenz (ausgedrückt durch den “weight factor”) aufweist. Die selektierten Strukturgeneratoren laufen synchron als eigenständige Schichten ab, die jedoch nicht miteinander koordiniert sind. Sie durchdringen sich, verschmelzen miteinander oder stoßen sich ab. Es ist schließlich der Hörer, der im Hören eine Synthese im Sinne des “Radikalen Konstruktivismus"58 leistet und aufgrund seiner individuelle Voraussetzungen den “ästhetischen Gegenstand”59 in sich Realität werden läßt.
Die Zusammenhänge sind in der Regel komplex und vieldeutig, da sich die einzelnen Strukturgeneratoren nicht eindeutig voneinander abgrenzen. An den Rändern erscheinen sie “offen”, wodurch sie mit anderen Modulen konvergieren können: Wenn zum Beispiel eine mehrtönige Trillerfiguration durch Verlangsamung als Akkordbrechung (’ARPEGGIO) oder Melodie in Erscheinung treten kann60, oder ein Akkordgenerator (’ BROWNCHORD) einstimmige Akkorde (welch’ herrliche Paradoxie!) erzeugt und der Akkord so zur Melodie wird.
Ein wichtiger Aspekt der Lexikon-Sonate besteht in ihrem Vermögen, Allusionen an bereits bestehende Musik hervorzurufen. Obwohl hier keinerlei Zitate verwendet werden (sondern nur algorithmische Beschreibungen von Klaviertopoi), kommt es immer wieder zu Déjà-vu-Erlebnissen. Diese tragen zu einer Semantisierung des Gehörten bei und fordern den Hörer zu einer persönlichen Deutung und Sinngebung heraus. In dieser Weise kann das Hören zu einem aktiven Gestaltungsvorgang werden, indem der Hörer das Gehörte in sich zu Musik werden läßt – und damit zum Mitschöpfer wird.
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52 Andreas Okopenko, Lexikon-Roman einer sentimentalen Reise zum Exporteurtreffen in Druden, (Frankfurt/Main, Berlin, Wien 19832).
53 ebda, S. 6.
54 Das Strukturmodell eines Trillergenerators wurde im Kapitel 2.4. erläutert.
55 Dieses Konzept geht auf Karlheinz Stockhausen zurück und wurde von Herbert Henck beschrieben; siehe: ders, Karlheinz Stockhausens Klavierstück X. Ein Beitrag zum Verständnis der seriellen Kompositionstechnik (Köln 1980), S. 19–23.
56 Diese Methode wurde von Gerhard Eckel gewählt, als er im November 1995 die Lexikon-Sonate als Klanginstallation im "Banff Centre for the Arts" (Kanada) präsentierte. – Näheres dazu findet sich im World-Wide Web unter: http://www.ping.at/users/essl/bibliogr/lexson-eckel.html
57 So geschehen bei der öffentlichen "Uraufführung" am 10. Februar 1994 im Großen Sendesaal des Österreichischen Rundfunks in Wien. Es handelte sich dabei um ein Konzert mit dem "Bösendorfer SE Grand Piano", das im Rahmen der Sendung KUNSTRADIO – RADIOKUNST live ausgestrahlt wurde. Das Publikum vor seinen Radioapparaten hatte die Möglichkeit, durch Wählen einer bestimmten Telefonnummer das Computerprogramm anzuweisen, ein neues Modul in die "Registerkette" einzuspeisen. Damit konnte der Hörer unmittelbar den musikalischen Verlauf beeinflussen, und das Ergebnis seiner Intervention sofort im Radio hören. – Näheres dazu findet sich im World-Wide Web unter: http://www.ping.at/users/essl/bibliogr/lexson-kunstradio.html
58 Karlheinz Essl, Kompositorische Konsequenzen des Radikalen Konstruktivismus; in: Positionen. Beiträge zur Neuen Musik, hrsg. von Gisela Nauck, Nr. 11 "Mind Behind" (Berlin 1992).
59 cf. Clemens Hausmann, Kunstrezeption und ästhetischer Gegenstand. - Vierter Teil: Anwendung und Diskussion des Modells: Andreas Okopenko, Lexikon-Roman / Karlheinz Essl, Lexikon-Sonate (phil. Diss., Salzburg 1995), S. 113 - 120.
60 Dargestellt an Hand des "Trillergenerators", s. Abschnitt 2.4.
© 2000, zuletzt geändert am 11. Februar 2000.