Über "READING CASTAÑEDA"
Auf Einladung des Instituts für Elektronische Musik der Musikhochschule Graz hielt ich dort im Frühling 1995 ein Seminar über verschiedene Aspekte der Computermusik ab. Die Diskussion des Kompositionszyklus READING CASTAÑEDA nahm einen wichtigen Platz in dem Kurs ein. In diesem Aufsatz möchte ich eine Zusammenfasung dieser Diskussion wiedergeben.
Um 1982 unterrichtete ich Elektronische Musik im 'Centre Europeán pour la Recherche Musicale' in Metz. Während der praktischen Arbeit entwarf die damalige Schülerin Andrea Atlanti mit mir zusammen einen Mechanismus zur Verstärkung der Vibrationen von Metallobjekten. Daraus entstand in mehreren Experimentierphasen eine Art Instrument, wir nannten es 'Klang-Objekt'. Wie in Abbildung 1 zu sehen ist, besteht das 'Instrument' aus einem Metallgerüst, an dem querliegende Nylonfäden befestigt sind. An diese Fäden werden verschiedene Metallobjekte auch mittels Nylonfäden aufgehängt. Am unteren Ende der Objekte wird ein zusätzlicher Nylonfaden befestigt, der in einem Holzgriff endet (Abb. 2). An diesem Griff kann man mit einer Hand das Objekt mehr oder weniger ziehen, mit der anderen Hand 'spielt' man, sei es mit einem Kontrabaßbogen auf dem Nylonfaden oder mit verschiedenartigen Schlägeln auf dem Objekt selbst. Der querbefestigte Nylonfaden wirkt wie ein 'mechanisches Mischpult', da man mehrere an einem Querfaden hängende Objekte gleichzeitig spielen kann. Ein Kontaktmikrophon leitet die Schwingungen dieses Mischpults zu Verstärkern und Lautsprechern.
Abb. 1: Klangobjekt, André Wolf bei der Aufführung von
THE TONAL in der Multimedial III des ZKM in Karlsruhe
Abb. 2: Klangobjekt, Bassam Abdul Salam bei
derselben Aufführung von THE TONAL
Wir experimentierten systematisch mit diesem Instrument. Aus dieser Arbeit entstanden etwa sechs Stunden Tonaufnahmen, die jetzt technisch 'aufgefrischt' auf DAT vorliegen.
Die Tonbeispiele 1 bis 6 geben Klänge wieder, die die breite Palette der gewonnen Klänge erahnen lassen:
Tonbeispiel 1: Ein Objekt, mit einem Schlägel geschlagen;
Tonbeispiel 2: Das gleiche Objekt, mit dem Bogen gestrichen;
Tonbeispiel 3: Ein anderes Objekt, mit einem Schlägel geschlagen;
Tonbeispiel 4: Das gleiche Objekt, mit dem Bogen gestrichen;
Tonbeispiel 5: Ein Objekt,mit einem Metallstab mf angeschlagen und dann gedämpft;
Tonbeispiel 6: Eine Feder mit einem Holzstab sfz angeschlagen.
Klänge dieser Art haben mich begeistert. Ich habe sie kodifiziert, analysiert, als Modelle für Computerinstrumente benutzt und natürlich hauptsächlich mit ihnen komponiert. Ich bin eigentlich mit der musikalischen Auswertung des Materials noch nicht fertig. Es bieten sich, vor allem durch neue digitale Arbeitsweisen, immer noch sehr interessante Möglichkeiten.
Zeitlich parallel mit dieser Arbeit beschäftigte ich mich mit der Lektüre der Bücher von Carlos Castañeda. Aus mehreren Gründen war ich an diesen Texten interessiert. Die Beschreibungen von bizarren, neuartigen Formen der Wahrnehmung fand ich faszinierend. Ich empfand es als 'Wahrnehmungs-Fiction'. Abgesehen davon, ob die Berichte Castañedas 'echt' sind (was einige Fachleute bestreiten) oder nicht, weisen sie eindeutig auf die Existenz eines sehr reichen Erfahrungsschatzes ('knowledge', in Castañedas Wortwahl) der urindianischen Kulturen Amerikas hin. Leider ist praktisch das, was nicht direkt während der Eroberungszüge im 16. Jahrhundert zerstört wurde, durch den Prozeß der Akkulturation in den nachfolgenden Jahrhunderten fast vollständig überdeckt worden.
Unter dem Eindruck dieser zwei Themen (die Beschäftigung mit den Klang-Objekten und die Lektüre von Castañeda) komponierte ich mehrere Werke. Mit Unterstützung des ZKM faßte ich sie 1993 zu dem Zyklus 'READING CASTAÑEDA' zusammen, der in der MULTIMEDIALE III uraufgeführt wurde. Es ist nicht unwichtig zu sagen, daß diese Kompositionen keineswegs Vertonungen der Texte Castañedas sind, sie sind eher als Kommentare, als Fußnoten zu verstehen.
© 2000 IEM Graz, zuletzt geändert am 11. Februar 2000,