Mythen und Ängste im endenden Jahrhundert
Elfriede Jelineks Libretto basiert auf dem Theaterstück "Das Fest des Lammes" von Leonora Carrington, Schriftstellerin und Malerin des Surrealismus, das diese, damals Gefährtin von Max Ernst, während der Kriegswirren des Frankreichs von 1940 verfaßt hat. Unter der oft absurd-witzigen Oberfläche dieses Festwochen-Auftragswerks wird eine pervertierte Familienstruktur offengelegt: (Un)bewußte Obsessionen, Phobien, Abhängigkeiten, Projektionen und Schuldhaftigkeiten der darin Verstrickten bilden ein unentwirrbares, fesselndes Netz, das sich wesenhaft längst selbst erhält.
Jelinek dekonstruiert nun einerseits die Sprachebene über das Aufbrechen von Dialogstrukturen (die Kommunikation versagt also) bis zu dadaistischen Stammeln. Andererseits bringt ihr Text eine Überfülle thematischer Eiterbeulen zum Platzen: Gefahren durch sublimierte oder ausgelebte Aggression ("Homo homini lupus"), durch Religion, Schönheitswahn, Eskapismus - erzählt mit ständigen Verweisen auf die modernen Mythen aus hundert Jahren (Horror-)Film- und TV-Geschichte unserer Medien- und Konsumwelt. Der Wahnsinn liegt dabei nicht zuletzt im Auge des Betrachters.
Vor dieser kaum zu bändigenden Flut angerissener Themen hat der Regisseur Nicholas Broadhurst kapitulieren müssen.
Mit ständiger Rücksicht auf Sigmund Freud und einer etwas ermüdenden Lust am infantilen Regreß zeichnete er, letzlich recht konventionell und konkret, das verbliebene Gerüst der "Story" nach, die im irrlichternd-kalten Weiß von Haus und Wald (Bühne: Brothers Quay) jedenfalls nicht zusätzlich verrätselt erschien.
Zum eigentlichen Faszinosum des Abends aber wurde Olga Neuwirths Musik, die das fast durchwegs tadellose Ensemble (an der Spitze: Christine Whittlesey als Theodora und der Counter Andrew Watts als Jeremy) und das Klangforum Wien unter Johannes Kalitzke in quasi spröder Sinnlichkeit zum Brühen brachte.
Und über allem die Musik
In meisterhafter Selbstverständlichkeit war die Live-Elektronik dabei eminent wichtiger, aber integrierter Bestandteil des zum Teil vierteltönig agierenden Instrumentariums:
Sie steuerte verfremdete Naturlaute bei, legte alltägliche Geräusche unter die akustische Lupe und legierte sich mit den Stimmen zu atemberaubenden Farben. Grandios zu erleben war, wie die Musik, als hätte sie geahnt, daß die Personenführung im letzten Drittel der 90 Minuten schwächer wurde, nicht nur "einsprang", sondern sich über alles erhob.
Ohne pathetische Gestik, aber mit expressivem, emotional wirkendem Engagement bäumte sich nach dem zehnten Bild mixturartig ein Zwischenspiel auf, dessen brausende Klage in Stellung und Bedeutung an Bergs "Wozzeck" gemahnte. Doch im letzten Bild gännen Jelinek und Neuwirth der gegen verknöcherte Konvention und brutale Unterdrückung kämpfenden Theodora eine Zukunftsperspektive - in langsamem Altern.
Der einhellige, aber kurze Premierenjubel feierte zu Recht vor allem die musikalische Seite des Abends, deren Wirkung man sich nicht entziehen konnte.
Walter Weidringer, Die Presse, 21. Juni 1999; Foto: © Sattmann