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Die Cocktailparty

Katalogbeitrag zur steirischen Landesausstellung 2000

Robert Höldrich

Stellen Sie sich folgende Situation vor: Am Ufer eines kleinen Sees befinden sich zwei nebeneinander liegende längliche Buchten, die nur durch eine schmale Landzunge getrennt sind. Sie sitzen am Beginn dieser Landzunge und betrachten gleichzeitig die Wellenbewegungen in den beiden Buchten. Ihre Aufgabe ist es nun anhand dieser Wellenbilder festzustellen, wann und wo im See in der letzten Zeit Fische gesprungen, Schwimmer und Enten geschwommen sind, ob das große oder das kleinere Passagierschiff vor kurzem die 500 Meter rechts liegende Anlegestelle angelaufen hat und ob der von den Seglern so herbeigesehnte Wind auch am anderen Ufer des Sees mit konstanter Stärke oder doch in Böen weht. Natürlich verursachen alle Schwimmer, Enten, Schiffe und Windstöße im Wasser Wellen, die sich vom Ort ihrer Entstehung in alle Richtungen ausbreiten. Natürlich werden einige dieser Wellen früher oder später auch die Eingänge der beiden Buchten erreichen und so zu den Wellenbildern beitragen, die Sie beobachten können. Aber niemand käme ernsthaft auf die Idee, daß man daraus auf das Geschehen am See in sinnvoller Weise schließen könnte. Dieses höchst komplexe Problem ist weder eindeutig noch vollständig lösbar.1
Stellen wir uns eine andere Situation vor: Ein stark frequentierter Platz in einer Stadt. Busse und Straßenbahnen fahren in die Haltestellen ein, Fahrgäste steigen ein und aus. Mehrere Kaffeehäuser, Imbißstuben und Restaurants haben ihre Gastgärten geöffnet. Zeitungsverkäufer preisen ihre Ware an. An mehreren Marktständen gibt es Brot, Gemüse und Blumen zu kaufen. Sie stehen mitten auf diesem Platz mit geschlossenen Augen und horchen. Und es bereitet Ihnen keine allzu großen Probleme zu erkennen, daß ein großer Bus gerade hinter Ihnen vorbeifährt, daß halbrechts vor Ihnen in einiger Entfernung eine Gruppe junger Leute lautstark diskutiert und im nächsten Moment eine Straßenbahn um die Ecke aus einer einmündenden Seitenstraße in den Platz einfahren wird. Sie können sich also ein vernünftiges Bild des Geschehens auf diesem Platz machen.
Wie im Beispiel am See sendet auch hier jedes Objekt Wellen, in diesem Fall Schallwellen, aus. Diese breiten sich vom Ort ihrer Entstehung in alle Richtungen aus, werden von Häuserfronten reflektiert, durch im Weg befindliche große Objekte teils abgeschattet, aber sie gehen auch zum Teil "um die Ecke". All diese Schallwellen überlagern sich und treffen auf unsere zwei "Buchten", die Ohren. Die Wellenbilder in den Buchten, hier die beiden Ohrsignale, werden auf vielfältige Weise im peripheren Gehör und im Gehirn verarbeitet und erzeugen schlußendlich ein akustisches Bild unserer Umgebung. Der Vergleich mit den Wasserwellen am See zeigt, welch komplexe Leistung unser Gehörsinn im täglichen Leben vollbringt. Denn auch aus den zwei Ohrsignalen läßt sich nicht eindeutig und vollständig auf die physikalischen Ursachen der Schallwellen, also die klangerzeugenden Objekte in ihrem raum-zeitlichen Kontext, schließen. Diese grundsätzliche "Unbestimmtheit der Ohrsignale"2 macht man sich zum Beispiel bei der Schallwiedergabe über Lautsprecher zunutze. Wenn wir vor unserer Stereoanlage sitzen und die Aufnahme eines Orchesterkonzerts hören, so entsteht mehr oder weniger die Illusion, wir säßen wirklich im Konzertsaal. Es stimmt also das akustische Bild - der Konzertsaal - mit der physikalischen Wirklichkeit - dem Wohnzimmer mit Stereoanlage - nicht überein. Das Gehör ist offensichtlich so angelegt, die Ohrsignale aktiv zu interpretieren und dabei ein akustisches Bild einer potentiellen Wirklichkeit zu erzeugen. Es verwendet dabei Wissen darüber, "wie bestimmte Ohrsignale unter natürlichen Bedingungen normalerweise entstehen".3 Das schließt auch Wissen über die wesentlichen Merkmale natürlicher Schallquellen selbst ein.
Dieser aktive Prozeß der Hörwahrnehmung kann noch verstärkt werden, indem wir unsere Aufmerksamkeit bewußt auf eine bestimmte Schallquelle richten und diese damit aus dem uns umgebenden Schallfeld gleichsam herauslösen und stärker wahrnehmen. Wir beobachten im täglichen Leben oft folgende Situation: "In einem Raum befinden sich mehrere Personen, die sich rege unterhalten. Ein Zuhörer ist trotzdem in der Lage, einen einzelnen Sprecher aus dem Stimmengewirr herauszuhören und ihn zu verstehen".4 Dessen ist er auch dann fähig, wenn er sich nicht dem Sprecher zuwendet. Dieses "sich konzentrieren" entsteht mittels neuronaler Verarbeitung der über die Ohren ausgenommenen Schallsignale. Es handelt sich dabei um einen bewußt gesteuerten Adaptionsprozeß im Gehirn. Da dieses interessante Hörphänomen in besonders ausgeprägter Weise bei Cocktailparties auftritt, wurde es auch erstmals 1953 von Cherry5 als "Cocktailparty-Effekt" bezeichnet.
In zahlreichen Studien6 wurde seither untersucht, welche physikalischen Attribute der Klänge denn ausschlaggebend sind für unsere Fähigkeit, gleichzeitig auftretende Schallquellen getrennt wahrnehmen zu können. Neben Unterschieden im zeitlichen Verlauf und in der spektralen Zusammensetzung ist dies vor allem die räumliche Trennung der Schallquellen, also die Tatsache, daß der interessierende Sprecher zum Beispiel rechts von mir steht, während die anderen Unterhaltungen links bzw. hinter mir stattfinden. Die zuverlässige Lokalisation einer Schallquelle ist nur durch das sogenannte binaurale (= beidohrige) Hören möglich. Die beiden Ohrsignale weisen je nach Einfallsrichtung der Schallwelle geringe zeitliche bzw. Intensitäts- und Klangfarbenunterschiede auf, die das Gehirn auswertet und durch die wir eine Schallquelle eben von links oder rechts, vorne, oben oder hinten wahrnehmen. Wenn man sich ein Ohr zuhält, geht nicht nur unsere Lokalisationsfähigkeit, sondern auch der Cocktailparty-Effekt in erheblichem Maße zurück.

Die Installation "Cocktailparty" thematisiert die Eigenschaft des menschlichen Gehörs in eine bestimmte Richtung hören zu können und dabei Klänge aus anderen Richtungen auszublenden. Die Installation gliedert sich in zwei benachbarte, aber räumlich getrennte Bereiche: den Cocktailparty-Bereich und den Beobachtungs- bzw. Hörraum. Im Cocktailparty-Bereich findet eine Stimmen- und Geräuschüberlagerung statt. Es handelt sich dabei um ein Foyer, also um einen Bereich, der häufig von Menschen frequentiert wird. In diesem Raum sind nebeneinander mehrere Mikrophone und eine Videokamera montiert. Jedes Mikrophon nimmt, gleichsam in der Funktion eines Ohres, das Klangfeld in seiner Gesamtheit auf, die Videokamera fängt die Totale ein. Im Hörraum sind ein Videomonitor, der das Kamerabild zeigt, und eine Gruppe von Lautsprechern in einer Reihe zu sehen. Vor dem Monitor befindet sich ein Pult, das den Hörpunkt darstellt und auf dem links und rechts je eine Antenne montiert ist. Zwischen die Mikrophone im Cocktailparty-Bereich und die Lautsprecher im Hörraum ist ein Computersystem geschaltet, das vom Betrachter gesteuert werden kann. Steht der Betrachter ruhig vor dem Pult, so verweilt das Computersystem im Hörmodus "Totale", der das Hören mit nur einem Ohr darstellt. Es wird dabei ein einziges Mikrophonsignal auf alle Lautsprecher geschaltet. Der Höreindruck wird ähnlich sein wie bei Monoaufnahmen aus den 30er und 40er Jahren. Man spürt zwar eine gewisse Räumlichkeit des Klanges, eine Ortung der einzelnen Schallquellen und damit verbunden das "sich konzentrieren" des Cocktailparty-Effekts ist jedoch weitgehend unmöglich.
Bringt der Betrachter seine Hand zwischen die beiden Antennen, so springt das Computersystem in den Hörmodus "Cocktailparty", der nicht nur mehrohriges Hören simuliert, sondern darüber hinaus je nach der Position der Hand zwischen den Antennen ein Hinhören in bestimmte Richtungen im Cocktailparty-Bereich ermöglicht. Bewegt der Betrachter seine Hand zum Beispiel zur linken Antenne, so werden Schallquellen, die aus der Sicht der Videokamera und der Mikrophone von links kommen, gegenüber anderen Richtungen hervorgehoben und über die links stehenden Lautsprecher wiedergegeben. Dies wird wie beim menschlichen Hören dadurch erreicht, daß Schallquellen aus verschiedenen Richtungen geringe Unterschiede in den Mikrophonsignalen erzeugen, die ausgewertet werden können. Ähnliche Verfahren wurden für Radar- und Sonaranwendungen entwickelt. Um eine dem natürlichen Hören vergleichbare "gerichtete Aufmerksamkeit" zu erreichen, sind jedoch deutlich mehr als zwei Mikrophone notwendig (hier 8), um die Performanznachteile zu kompensieren, die die vergleichsweise äußerst bescheidenen Computerverfahren gegenüber den vielen komplexen neuronalen Verarbeitungsschritten aufweisen.

Anmerkungen:

1 vgl. A.S. Bregman, "Auditory Scene Analysis". Cambridge, Mass. 1990.

2 E. Terhardt, "Akustische Kommunikation". Berlin, 1998. 10.

3 ebenda. 11.

4 J. Bauert: "Räumliches Hören". Stuttgart 1974. 206.

5 E.C. Cherry, "Some Experiments on the Recognition of Speech with One and with Two Ears". J. Acoust. Soc. Am. 25 (1953), 975-979.

6 Eine Zusammenfassung der Literatur findet sich in: W.A. Yost, "The Cocktail Party Problem: Forty Years Later". In: R. Gilkey, T. Anderson (Hrsg.), "Binaural and Spatial Hearing in Real and Virtual Environments". Mahwah, New Jersey 1997, 329-348.


© 2000, zuletzt geändert am 30. Oktober 2001.


Last modified 15.04.2003