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You are here: Home » Kunst & Forschung » Publikationen » Beiträge zur Elektronischen Musik » BEM 9 - Komponieren im 21. Jahrhundert - Texte 1993-99

KOMPONIEREN IM 21. JAHRHUNDERT

BEM 9 von Sandeep Bhagwati

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Zusammenfassung / Abstract
Fugen und Fluchten (1993)
Musik - eine Weltsprache? (1996)
Ritual Virility Machine (1998)
Oper ist Subkultur (1998)
Wahrheit für Komponisten (1998)
Komponieren im 21. Jahrhundert (1999)
Curriuculum vitae
Werkliste


Zusammenfassung

In den vorliegenden sechs Aufsätzen beschäftigt sich der Komponist Sandeep Bhagwati mit verschiedenen Fragen der Musikästhetik und der Komposition am Ende dieses Jahrtausends.

„Fugen und Fluchten" ist selbst eine literarische Fuge. Der Autor zieht Parallelen zwischen den Gefühlen eines Gejagten, dessen Atemlosigkeit und Verzweiflung, und Aspekten klassischer und zeitgenössischer polyphoner Kompositonstechniken.

„Musik - eine Weltsprache?" ist ein polemischer Angriff auf die unzulängliche Art, mit der sowohl die allgemeine Öffentlichkeit als auch elitäre Musikerkreise mit dem Phänomen „Weltmusik" umgehen. Bhagwati schlägt neue Fragen für eine multikulturelle Ästhetik vor: Was ist Zuhören? Welche Arten des Zuhörens gibt es, worauf legen sie Wert, was entgeht ihrer Aufmerksamkeit? Was geschieht, wenn verschiedene Arten des Zuhörens aufeinanderprallen? Wer hört welchen musikalischen Wahrheiten zu, in welchem Zusammenhang?

„Ritual Virility Machine" (ein Wortspiel mit „Virtual Reality") ist ein Text, der gleichzeitig mit einem Orchesterwerk gleichen Titels geschrieben wurde, das 1998 vom Münchner Philharmonischen Orchester uraufgeführt wurde. Der Text wirft einen etwas verblüfften Blick auf Männer, die gerade beginnen Maschinen zu bauen, die sie letzendlich ersetzen werden: eine vergnügte Betrachtung über Cybersex.

„Oper ist Subkultur" definiert zeitgenössische Oper als wahrscheinlichsten Ausgangspunkt einer ästhetischen Erneuerung für die Zukunft von Musik und Kunst. Das schließt allerdings mit ein, dass Oper eine Form von Subkultur werden muss, um ihr subversives Potential entwickeln zu können.

„Wahrheit für Komponisten" stellt sich gegen die Idee, dass Wahrheit aus der statischen Analyse festgeschriebener Partituren gefunden werden kann. Vielmehr sollten Komponisten nicht das Endgültige, sondern die flüchtige, emergente Wahrheit suchen.

„Komponieren im 21. Jahrhundert" diagnostiziert eine Krise im zeitgenössischen Komponieren und führt diese auf drei Faktoren zurück: das Verschwinden von Grenzen des technisch Machbaren (frontier), die Durchlässigkeit von kulturell definierten ästhetischen Grenzen (border) und die Herausforderung durch den Computer für das Konzept des Komponierens selbst.

Der Text schlägt mehrere Ansatzpunkte der kompositorischer Forschung vor. Einerseits die Untersuchung von Anstiegen und Abnahmen der perzeptiven Komplexität von Musik durch die Geschichte, andererseits die Ersetzung der inadäquaten Abhängigkeit von Begriffen wie Authentizität und Identität durch eine neue Ästhetik der Vielfalt, Mischung und Grenzüberschreitung, durch eine Neudefinition der Arbeit des Komponisten, weg vom Geniekult, hin zu einem prozessualen, dialogischen Verständnis der Entstehung neuer Musik.


Abstract

In these six essays, composer Sandeep Bhagwati explores different issues related to the state of music aesthetics and composition at the end of this millenium.

„Fugen und Fluchten" (Fugues and Flights) is in itself a literary fugue: Bhagwati parallels feelings of the hunted, their breathlessness and despair, with aspects of classical and contemporary polyphonic compositional technique.

„Musik - eine Weltsprache?" („Music - an universal language?") is a polemic attack on the inadequate ways the general public as well as elite musical circles deal with the phenomeon called „world music" and proposes a new set of questions for a multicultural aesthetic: „What is listening" What modes of listening can be discerned, what do they accentuate, what escapes their attention? What happens when different modes of listening clash? Who listens to which musical thruths, in what context?

„Ritual Virility Machine" (a wordplay on „Virtual Reality") is a text written together with an orchestra piece of the same title, first performed in 1998 by the Munich Philharmonic Orchestra. The text casts a puzzled look at men who acutally have started building those machines that ulitmately will replace them. An amused look at cybersex.

„Oper ist Subkultur" (Opera is Subculture") defines contemporary opera as the most probable form of aesthtetic renewal for the future of music and art - at the same time, this implies that opera needs to become a form of subculture. Only then can it develop its subversive potential.

„Wahrheit für Komponisten" (Truth for Composers) rejects the idea that truth can be found in the static analysis of musical scores. Instead, composers should aim not for ultimate, but for fluid, ephemeral, emergent and contingent truth.

„Komponieren im 21. Jahrhundert" (Composing in the 21st century) diagnoses a crisis in contemporary composing and attributes it to three different factors: the disappearance of technial frontiers, the permeability of culturally defined aesthetic borders, the challenge ot the computer to the concept of composing itself. It proposes several fields of compositorial research: exploring the ups and downs of perceptual complexity in music throughout history, replacing the inadequate dependence on issues of authenicity and identity by a new aesthetics of the diverse, of mixtures and boundary clashes, and finally, by re-defining the actual idea of what a composer does - away from the cult of the genius towards a processual, dialogical understanding of emerging new music.


Fugen und Fluchten

Thema

Schreiben eines parforcegejagten Hirschen an den Fürsten der ihn parforcegejagt hatte, d.d. jenseits des Flusses.

Durchlauchtigster Fürst, Gnädigster Fürst und Herr!

Ich habe heute die Gnade gehabt, von Ew. Hochfürstlichen Durchlaucht parforcegejagt zu werden; bitte aber untertänigst, dass Sie gnädig geruhen, mich künftig damit zu verschonen. Ew. Hochfürstl. Durchl. sollten nur einmal parforcegejagt sein, so würden sie meine Bitte nicht unbillig finden. Ich liege hier und mag meinen Kopf nicht aufheben, und das Blut läuft mir aus Maul und Nüstern. Wie können Ihre Durchlaucht es doch übers Herz bringen, ein armes unschuldiges Tier, das sich von Gras und Kräutern nährt, zu Tode zu jagen? Lassen Sie mich lieber totschießen, so bin ich kurz und gut davon.

Matthias Claudius

Erste Durchführung

1
Lange und schlecht geht es uns auf der Flucht. Ob von ferne die Hörner tönen oder schon das blutige Hecheln der Hunde die Flanken emporzüngelt: Unsere Jahre werden zu Tagen, das Blickfeld verengt sich, der Atem geht flach, die Beine sind Blei. So sterben möchte keiner, niemand erwägt, so zu leben.

2
Höchstens zur Probe. Einer der ersten Disney-Filme, noch aus den Zwanzigern, zeigt zwei Welpen, die ein über den Zaun geflogenes Huhn über den Farmyard jagen. Das Gelächter der ZuschauerInnen bricht überrascht hervor, wenn diese Flucht die Ordnung der Dinge erhöht, statt Wirrnis zu erzeugen: der Rasenmäher, der über einen Berg Kartoffeln fährt, sortiert die Schalen und die geschälten Früchte; der Holzstapel findet sich zu immer neuen Ordnungen, als die Hunde und das Huhn darauf umhertollen.

3
Die Ursprünge der Fuge liegen in der Jagd: "Caccia" nennen KomponistInnen die ersten Stücke, deren formale Gestalt wir heute als die einer Fuge identifizieren können. Auch diese Jagd ist eine, in deren Verlauf aus erwarteter Unordnung durch das Eintreten vieler gleichartiger Stimmen die Überraschung einer Ordnung entsteht. KontrapunktikerInnen vertraut ist das eigentümlich musikalische Phänomen, dass eine völlige Gleichwertigkeit zweier Stimmen nur dann wahrnehmbar wird, wenn sie in Struktur und Ausdruck genau dasselbe sagen; nur eben nacheinander. Dieses paradoxe Verhältnis von Identität und Nicht-Identität ist im Vexierbild der musikalischen Fuge das wirkliche Thema. Aus den Verwindungen der einzelnen Stimmen entstehen unvermittelt sich gegenseitig durch die Zeit jagende Gestalten, deren einzelne Fluchten in sich völlig konsistent sind. Jede Identität bleibt gewahrt: niemand auf dieser Parforcejagd rettet des anderen Leben - und doch fügt sich alles zum harmonischen Genuss.

4
Wäre dieser Genuss denn wenigstens eine Fiktion und gut erfunden. Aber - viel schlimmer - diese Invention ist sehr banal. Sie krümmt sich vor Angst in sich selbst zurück, und statt eines weiten Fluges beginnt sie mit einer These: nämlich, dass Alleinsein der Anfang der Flucht sei; diese These erweitert, nämlich dass Imitation schon Verfolgung bedeute, vor der nur heillose Flucht ein Ausweg sei; diese neue These durchdenkt in verzweifelten Ausbrüchen und sanften Kapitulationen, bis am Ende keine Wahl mehr bleibt als: die These aufzublähen und fortan zu schweigen: nirgends eine Analyse, Debatte, Diskussion, nirgendwo auch nur ein Schwänzchen einer Antithese, hervorlugend aus dem fliehenden Stirnenkind Fuge. Der Genuss einer Fuge ist ein Missverständnis.

Zwischenspiel

1

Monomanisch wiederholt wird alles Sprechen zu einer besonderen Flucht. Die Linearität der Sprache wird plötzlich zum Ereignisraum, der beliebige Sprünge gestattet in und außerhalb der Zeit. Mit dem "re-enactment" einer unendlichen Schleife arbeitet die Minimal Music. Wo sich im Kontrapunkt Raum verflüchtigt und das Verstreichen der Zeit Thema wird, macht sich in der Minimal music die Zeit aus dem Staub, überlässt dem Raum das Feld.

2
Atemlos durchmisst die HörerIn einer Fuge das Terrain. Auf der Flucht fehlt die Luft - und die nahtlos unsingbaren Melodien des linearen Kontrapunkts simulieren diese Not. Aber es gibt auch den Bonus aller Fluchtmomente: die höchst geschärfte Aufmerksamkeit, die, sowohl konzentriert wie gleichsam hologrammatisch zerstreut, verschiedene Ereignisebenen zugleich in die Gegenwart der Sinne eindringen läßt und sich in paralleler Achtsamkeit auf die Augenblicke und Ohrenlauschen der "bedrohlichsten" Einzelheiten einlässt. So lehrt die Fuge zugewandtes Hören, das die Geborgenheit verlässt.

3 (1)
Mon premier est touché à mort
Mon deuxième se brosse en attendant
Mon troisième ramasse les noyaux
Est battu par mon quatrième
Et mon tout dit: "C'est moi le bon juge."

Henri Michaux

4
Was tun? Auf der Flucht das Lange und Schlechte kultivieren? Die erhöhte Aufmerksamkeit als Zugewinn verbuchen? Fugen als Initialen der modernen abendländischen Kunstmusik anerkennen, als einer Musik, die den Wechsel von innerer zu distanzierter Hörhaltung erzwingen sollte? Sie als Wegbereiter der parallelen Computer preisen? Sie als Zeichen des beginnenden Verlusts der Dinge misstrauisch beäugen?

Zweite Durchführung

1
In der höfischen Musik der Frühklassik spielt die Darstellung der Jagd eine hervorgehobene Rolle. Ob Mozart, Haydn oder C.Ph.E.Bach: es werden die Freuden des Jägers, die Lust am Jagen, das Entzücken an wilder Betätigung und der Befreiung vom Verhaltenen des Hofes gerühmt, Hornquinten in reichlicher Zahl jubelnd eingestreut, die Ängste und Sorgen des irrenden Jägers in harmonischen Labyrinthen wiedergespiegelt, die Erregung auf galoppierendem Pferde in dynamischer Rhythmik evoziert. Gedenkt hier jemand der Gejagten?

2
In Heinz Winbecks 3.Streichquartett, das er mit dem Untertitel "Jagdquartett" versehen hat, ist die Angst der Gejagten das Hauptthema. Auch er zitiert als Einführung Claudius' " Schreiben eines parforcegejagten Hirsches". Die Beklemmung wird aber nicht als abstrakt musikalisches Gegenüber konstituiert, sondern ganz im Verständnis der Spätromantik als inneres Abbild. Dies aber wiederum ist nicht, wie es in der Spätromantik noch komponiert worden wäre, eine Darstellung psychologischer Seelenregungen, sondern greift tiefer in das Mikroklima der Gefühle ein. Beim Zuhören kommt man den physiologischen Gegebenheiten der verschiedensten Angstzustände sehr nahe. Man hört das Blut im Ohr rauschen, den Puls pochen, die Atmung hektisch, flach und unregelmäßig werden. Die Kraft läßt nach oder gipfelt in verzweifelten Paroxysmen. Stille holt den Tod heran.

3
Das Erstarren der Bewegung ist sowohl die Konsequenz aus zu matter wie aus zu vielschichtiger Aktivität. Wo zwei einander jagen, steigt die Aufmerksamkeit. Viele, die Viele jagen, gerinnen zum changierenden Muster. In den frühen Meisterwerken György Ligetis, wie "Atmospheres" oder dem "Requiem" steigert die Jagd aller gegen alle sich zur paradoxen Fiktion einer "deterministischen Brown'schen Bewegung". Wo alle einander jagen, hat das Zuschauen, Zuhören ein Ende. Die Flucht ist kein kulturelles Phänomen mehr, auf das adäquate Reaktionen möglich sind - sie verlagert sich in die intimen Verstrickungen der Opfer und Täter. Und selbst hier verliert die Wahrheit der Flucht ihr Gesicht. Für die Hetzmasse der Jäger ist keine Schuld, für die Masse der Gehetzten kein Entkommen wirklich real. Die Fliehende in der Masse ist schon tot, weil sie als ÜberlebendeR den Tod der anderen in sich birgt; die TreibjägerIn paralysiert, weil alles Ergreifen ihr nur ein vorläufiges ist: so verschwindet die Fluchtbewegung im Oszillieren der Totale. Es scheint, als ob das Sich-Wälzen der Masse keines hetzenden Antriebs mehr bedürfe, um zur Katastrophe zu eilen: und in Ligetis "Atmospheres" ist tatsächlich das Fliehen ausweglos geworden - von Anfang an weiß die aufmerksame HörerIn vom Fazit des Werkes, ohne sich dem Sog dieser statischen Massenflucht je entziehen zu können.

4
Wäre eine Flucht doch immer auch ein Flug: Denn ein Flug verlangt nach Wandel, nach Erneuerung, nach Unbekanntem, nach neuer Nahrung, neuer Luft. Maul und Nüstern sind geweitet, wenn man fliegt. Aber die meisten Fluchten sind leider nur Thesen: um das Vertraute zu retten, um das Alte zu verwahren, das Eigene zum Maß für das Andere zu nehmen. JägerIn wie GejagteR sind Teilhaber in diesem Geschäft, wenn auch jene den Gewinn, diese nur die Kosten tragen. Beide bleiben auf dem Boden der sogenannten Tatsachen, die immer auch Leidsachen sind. Kein Aufschauen, keine Atemluft, kein innerer Gesang. Und so, obwohl kein Ende des Fugendiskurses vorstellbar ist, ist es plötzlich da.

Coda

Wir sind auf der Flucht? Nur - wohin? Fast alle sagen: in die Fremde. Dort wo es uns lang und schlecht geht, wie auf der Flucht. Die Todesangst wird chronisch und unheilbar. Aber wer hat die Fremde zu unserem Ziel gemacht? Die Illusion der Fremde entsteht immer in den Köpfen der JägerInnen und wird erst in den Herzen der Fliehenden zu einer Realität. Wir glauben, dass es die Fremde gibt, weil wir die Sprache der JägerInnen gelernt haben statt den freien Flug zu üben. Könnten wir leichthin fliegen, gäbe es die Suche nach Zuflucht nicht und weder Heimat noch Fremde. Wir bräuchten keinen Grundton am Ende der Coda. Es wäre schon vieles gewonnen, wäre uns die Möglichkeit gegeben, immer dann, wenn wir fliehen müssen, zu einem weiten Flug in die Lüfte zu steigen. Allein, um unser Herz zu schonen.


Musik - eine Weltsprache?

Missionen

1. Ist Musik wirklich eine Weltsprache?
In Festreden über Musik taucht immer wieder das Klischee von der Musik als Weltsprache auf. Und in einem gewissem Sinne ist sie das natürlich auch - wenn die Berliner Philharmoniker in Japan Bruckner aufführen, kommen sie eher an, als wenn Günter Grass dort eine Lesung aus einem seiner Romane präsentieren würde. Und wenn ein balinesisches Gamelan-Ensemble hier spielt, berührt uns das eher als ein Vortrag in einer der indonesischen Sprachen.

Aber schon der zweite Fall zählt für die meisten Festredner nicht zu ihrer Vorstellung von der "Weltsprache Musik": Normalerweise meinen sie damit die erfreuliche Tatsache, dass auch junge KoreanerInnen Mozart geigen und man ein europäisches Jugendorchester zusammen-stellen kann, das in friedvoller Zusammenarbeit Brahms spielt. In der ganzen Welt füllen europäische Orchester die Säle und ernten begeisterten Beifall. Das ist schön, aber aus der Perspektive anderer Länder und Musikkulturen ist diese ganze Angelegenheit nicht so harmlos wie sie Europäern erscheint.

Sie fragen sich, ob die Musik nicht vielleicht aus denselben Gründen eine "Weltsprache" ist wie Englisch und Französisch es sind, Überbleibsel alter Kolonialstrukturen, Begleit-erscheinung neuer wirtschaftlicher Abhängigkeiten?

2. Europäische Musik in der Welt
Wie der Soziologe und Musikschriftsteller Edward Said in seinem Buch "Orientalism" erstmals artikuliert hat, beginnen die Kulturen dieser Welt langsam zu erkennen, auf wie vielen verschiedenen Feldern Europa die Welt erobert und beherrscht hat - und auf welche Arten und Weisen, abgesehen von ökonomischen Tricks, es dies heute noch tut. Der Glaube an die Weltsprache Musik ist eine dieser subtilen Techniken, genauso übrigens wie die europäische Begeisterung für die sogenannte "Weltmusik".

Indem man die europäische Musik zur Weltsprache erklärt, definiert man andere Musikkulturen zu Regional- oder Lokalsprachen um. (In München hat z.B. das bekannte Kaufhaus "Ludwig Beck" eine neue Abteilung namens O-TON eingerichtet. Dort findet man CDs aus Filmmusik, Volksmusik und Literatur - und eben unter dem Label "Folklore" neben wirklicher Folklore auch Musiken aus China, dem Iran, Indien, Bali, der persisch-arabischen Welt, die alles andere als Folklore sind: nämlich hochentwickelte und differenzierte, theoretisch reflektierte Kunstmusiken!)

Indem man eine japanische Pianistin in Mozart-Interpretation unterrichtet, weicht man der Bereicherung aus, die eine von ihr ausgehende gänzlich anders geartete Auseinandersetzung mit der europäischen Tradition ermöglichen würde. Indem man an die universale Gültigkeit der Musik Beethovens glaubt, diskreditiert man all jene außerhalb des eigenen Kulturkreises zu Musikern einer niedrigeren Erkenntnisstufe.

Meditationen

1. Exotismus
In der Musikwissenschaft und vor allem in der Kompositionslehre der sog. "Neuen Musik" hat man einen solchen Schritt schon lange vollzogen - man vermittelt ständig den Eindruck, alle Musik der Welt lasse sich nach den Regeln der westlichen Musikwissenschaft deuten - und betrachtet so die anderen Musikkulturen der Welt lediglich als Spezialfälle des übergreifenden abendländischen Konzepts von Musik, meist sogar als unterentwickelte oder "rohe" Formen musikalischen Denkens, deren Konzepte, Ideen und Klänge stets strukturell repräsentiert und ohne Substanzverlust in westliches Musikdenken übernommen werden können - als willkommene exotische Reize. Seit etwa 50 Jahren gibt es in diesem Bereich auch das Streben nach einem brutalen musikalischen Internationalismus, der sich in den jährlichen "World Music Days" am greifbarsten artikuliert und unverhohlen den Anschluss der "exotischen" Musiken an die Ästhetiken der Neuen Musik propagiert.

Exotismus ist aber nicht nur eine Malaise der fernwehkranken Liebhaber indischer Ragas, sie wurzelt tief im abendländischen Verständnis von Künstlertum und Kunst: Künstler, so sagt dieses Verständnis, finden neue Ausdrucksformen, neue Welten, verletzen Normen, brechen Tabus. Unter diesem Blickwinkel müssen natürlich Kulturen, in denen Traditionen mehr gelten als Erfindungen, einem niedrigeren Kulturniveau verhaftet sein.

Oder: im Westen gilt niedergeschriebene Musik aus verschiedenen Gründen für wertvoller als oral tradierte oder gar improvisierte Musik. E-Musik wird im Prinzip immer aufgeschrieben (in der Neuen Musik gehört die bis ins kleinste Detail reichende Notation sogar zu den wesentlichen Qualitätskriterien eines Werkes, man gewinnt keinen Wettbewerb mit skizzenhafter Notation), nicht-aufgeschriebene Musik wird daher tendenziell als U-Musik betrachtet. Was aber heißt das für Musiken wie z.B. die der nordindischen Tradition, die per definitionem nur mündlich weitergegeben werden?

2. Weltmusik
Ein deutliches Beispiel für diese Haltung, besonders in Deutschland, ist die Rezeption von und der Umgang mit der so genannten "Weltmusik". Sie ist für das normale städtische Publikum eine Abart der Popmusik, die man in derselben Umgebung, mit denselben Stammesritualen, mit derselben Sucht nach Identifikation rezipiert wie Joe Cocker oder Miles Davis - auch wenn natürlich die jeweilige Zuhörerschaft aus ganz anderen Leuten besteht.

Bei Musikern und Komponisten der Avantgarde-Szene ruft diese Musik - als verdächtige Mischung aus Pop (weil viele sie hören und kaufen) und Folklore (weil nicht in einer "fortgeschrittenen" Ästhetik geschrieben) - entweder die stammesspezifische Abwehr gegen alles Kommerzielle hervor, oder hemmungslose Ausschlachtungsgelüste: Für viele, die sich gegen jede Stilunreinheit und jedes Zitat aus der abendländischen "hohen" Musik vehement verwahren, sind Zitate aus Volks- und sozialistischen Kampfliedern genauso erlaubt wie Zitate orientalischer, afrikanischer oder indischer Techniken und Musiken. Nur europäische klassische und Avantgarde-Musik ist in ihren Ohren also wirkliche Kunst mit ästhetischem Eigenwert - alles andere ist lediglich exotisches Material, Vogelsang und Meeresrauschen.

Mixturen

1. Reinheit
Was hilft gegen die Krankheit des Exotismus? Vielleicht ein respektvollerer Umgang mit fremden Musiken? Ja und nein.

Mehr Respekt ist meistens der erste Schritt. Erkennen, dass in anderen Kulturen anders, aber nicht weniger tief gedacht wird - für eine Kultur wie die Indiens zum Beispiel, in der die ersten musikwissenschaftlichen Traktate vor dreitausend Jahren geschrieben wurden, ist die abendländische Musik mit ihren knapp tausend Jahren der Musikreflexion ein Newcomer.

Erkennen und akzeptieren auch, dass in anderen Kulturen Musik andere soziologische Funktionen erfüllt, dass z.B. nicht überall Musik gleich öffentlich, d.h. Konzertmusik ist, sondern auch Formen jenseits aller Öffentlichkeit kennt, und dass man diese Musik, in einem Konzert hier präsentiert, nur schön finden, aber selten verstehen kann.

Und schließlich akzeptieren, dass auch Ereignisse, die wir nicht verstehen, Ästhetiken, die uns banal oder wirr oder primitiv erscheinen, nicht immer einer niedrigeren Kulturstufe angehören müssen, sondern einfach einen anderen Weg gehen, bei dem jede Debatte darüber, wer weiter entwickelt ist oder eine tiefere Erkenntnis mitbringt, sinnlos ist: denn selbst wenn Anfang und Endpunkt zweier Wege dieselben sind (sagen wir z.B. Ausdrucksbedürfnis und Erkenntnis) - wer kann dann schon sagen, welcher von beiden der "richtige" ist.

Dies alles sind Erkenntnisse, die in anderen Künsten schon lange Fuß gefasst haben - aber wie immer hinkt auch hier die Musik ihren Geschwisterkünsten einige Jahre bis Jahrzehnte hinterher.

Die respektvolle Haltung ist aber, wie gesagt, nur der erste Schritt, sozusagen die Pforte für die Verblendeten. Sie birgt nämlich noch immer eine große Gefahr: die Konversion zu einem hohepriesterlichen Kult der Reinheit nämlich, der - überspitzt gesagt - Shakuhachi-Musik nur im japanischen Teehaus und nur von einem echten Japaner gespielt hören möchte: nur so, behaupten diese, könne man in das Wesen der Musik eindringen. (Dass dagegen z.B. einer Pianistin wie Mitsuko Uchida wunderschöne und tiefe Interpretationen klassischer westlicher Musik gelingen, steht offenbar auf einem anderen Blatt: denn abendländische Musik sei ja, so die imperiale Prämisse, universell verständlich und interpretierbar!)

Nirgendwo zeigt sich so deutlich, dass der europäische Hang zur Selbstgeißelung eigentlich Folge eines Hochmutes ist - denn wenn man behauptet, dass ein europäischer Sitarspieler nie die wirkliche Magie Indiens ausloten könne, und dass nur afrikanische Musiker das wahre Rhythmusgefühl hätten, das für die lebendige Realisation ihrer komplizierten Rhythmen notwendig sei - so ist dies keine Bescheidenheit. Ganz im Gegenteil deutet man damit an, dass die Musik anderer Kulturen nicht universell sei, sondern so exotisch und lokal begrenzt wie ihre Sprache; man redet sich dann ein, dass jede Beschäftigung mit dieser Musik ohnehin an der Oberfläche bleiben muß: sie ist eben nicht wirklich Kunst, sondern nicht mehr als ein Souvenir, eine Postkarte aus fernen Landen.

Und so wie man nicht Tamil lernt, nur weil man nach Madras fährt (denn schließlich versteht jeder dort ohnehin Englisch), so müht man sich als Komponist und Musiker nicht mit den spezifischen spieltechnischen Eigenheiten des Gamelan ab, weil für unsere nach Neuheit lechzenden europäischen Ohren der Ohrenkitzel dieser Musik schon genügt - sollen doch die Einheimischen sie verstehen, die Europäer können das ja angeblich sowieso nicht - oder anders gesagt: Sie haben es nicht nötig!

Und oft sind es hier gerade jene, die am entschiedensten nach der Unverfälschtheit und Authentizität einer außereuropäischen Musik rufen, dieselben, welche dann zu ihr eine Haltung einnehmen, die letztlich jener Attitüde eines Rohstoffhändlers sehr ähnlich ist, der auch nur das reinste Uran, das unverfälschteste Erdöl kaufen will.

2. Heterogenität
Der zweite und unabdingbare Schritt zu einem gleichwertigen Umgang wäre, so meine ich, eine grundlegende Akzeptanz aller kulturellen Mischformen, Überschneidungen, Crossovers. Warum?

Weil auch in der westlichen Kultur noch immer, trotz Auschwitz und Srebrenica, eine Angst vor Vermischungen vorherrscht, die mit dem Nationalismus des letzten Jahrhunderts begann, und noch heute nicht aus den Köpfen verschwunden ist. Jeder Vertriebsmanager einer Plattenfirma weiß, dass Platten mit dem Etikett "Crossover" sich zwar gut verkaufen, den Ruf in der Kritikerwelt, die sogenannte "credibility", aber schädigen. Noch immer bringt das Ignorieren von kulturellen Grenzen einem Künstler den Verdacht von Seichtigkeit ein. Seit das Authentische im Gefolge der 68er zum intellektuellen und gesellschaftlichen Statussymbol geworden ist, ist die Neugier auf Fremdes nur noch dann legitim, wenn sie dieses als vom Westen kontaminiert entlarven oder - als Authentisches idealisieren kann. Ein freimütiger und alltäglicher Umgang mit verschiedenen Kulturansätzen, Sprachniveaus, Tonfällen, intellektuellen Konzepten dagegen erweckt stets tiefes Misstrauen ob der Redlichkeit und Relevanz der betreffenden Arbeit.

Das sind natürlich Rückzugsgefechte einer Zeit, als die europäische Kultur zum letzten Mal einigermaßen homogen war, als alle wichtigen Weltfragen noch von Abendländern für Abendländer entschieden wurden. Dies ist nicht mehr so, vor allem nicht in der Kultur. Wie Pico Iyer in einem süffisanten Aufsatz im Hinblick auf die englische Literatur geschrieben hat, sind fast alle guten Romane der englischen Sprache in den letzten Jahren von Nicht-Engländern und Nicht-Amerikanern verfasst worden. Er nennt das: "The Empire writes back"!

Auch in der Musik gibt es einige erstaunliche Dinge zu vermelden: Musiker wie Zakir Hussain und Shankar aus Indien, Nassir Shamma und Anouar Brahem aus der arabischen Musikwelt lassen sich in einer Weise positiv von westlichen Musikkonzepten beeinflussen, wie es vor ihnen umgekehrt Claude Debussy, Olivier Messiaen oder Karlheinz Stockhausen taten. Auf einmal ist die symphonische Dichtung eine exotische Form, der Kontrapunkt eine flüchtige technische Anleihe, das Saxophon ein exquisiter Klangreiz. Der indische Philosoph und Sänger/Komponist Ritwik Sanyal hat in seiner "Philosophy of Music" ein auf indischem Denken basierendes System entwickelt, in dem die gesamte abendländische Musik nur eine von mehreren möglichen musikalisch-spirituellen Sphären ausfüllt.

Auch solche Dinge müssen vor allem unsere Gralshüter der Kunst, die Institutionen, die Akademien, die Kritiker verstehen lernen: Europa hat nicht einmal mehr das Anrecht auf eine exklusive Deutung und Nutzung seiner eigenen Traditionen - es muß, wie alle anderen Kulturen dies schon seit Jahrhunderten von Europa erfuhren, sich dem fremden, dem vereinnahmenden, ja auch dem oberflächlichen, dem ausbeutenden Blick aussetzen.

Noch einmal das Beispiel der japanischen Pianistin, die Mozart übt: Muß sie denn von einem Klavierprofessor, der möglichst auch noch Salzburger ist, darin unterrichtet werden, wie man Mozart "richtig" spielt? Wäre es nicht spannender (und letztlich wirkliche Kultur statt bloßer Repräsentationskultur), wenn sie aufgrund ihrer ganz spezifischen multikulturellen Prägungen eine eigene, möglicherweise ganz eigentümliche Interpretation fände. Wenn sie Mozart "schlecht", sich selber aber gut interpretierte?

Zum Schluß noch eine These, die ich ein wenig dem Oeuvre des großen englischen Soziologen Zygmunt Bauman entlehnt habe (und die angemessen auszuführen den Rahmen dieses Textes sprengen würde):

Die Fragen, die Europa an die Musik stellte, lauteten stets:

Was ist richtige Musik? Wie soll man sie hören? Welche Maßstäbe kann man für sie finden? Wer hört sie richtig, wer versteht sie?

Die Fragen, die sich in einer wirklich globalen Musik stellen würden, sind vielleicht ganz andere:

Was ist Zuhören? Welche Arten des Zuhörens gibt es, worauf legen sie Wert, was entgeht ihrer Aufmerksamkeit? Was geschieht, wenn verschiedene Arten des Zuhörens aufeinanderprallen? Wer hört welchen musikalischen Wahrheiten zu, in welchem Zusammenhang?

Mit solchen Fragen ist es vielleicht schwieriger, zugleich aber auch einfacher, sich einer Musik der Welt zu nähern. Ob sie aber je eine Welt-Musik werden wird, von "Weltsprache" ganz zu schweigen? Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht einmal, ob es wünschenswert wäre.


Ritual Virility Machine

NB: Dieser Text wurde zur Uraufführung meines Orchesterwerkes "Ritual Virility Machine" auf eine Bitte der Münchener Philharmoniker geschrieben. Nachdem diese ihn erhalten hatten, entschieden sie sich jedoch, ihn lieber nicht im Programmheft abzudrucken.

I
„Ritual Virility Machine" ist ein Titel, auf den mich ein Freund gebracht hat. Dieser, unter anderem auch DJ, hatte eine Reihe seiner experimentelleren Techno-Tracks "Ritual Virility" genannt. Er verstand dies als deutlichen Verweis darauf, wie im durchdringenden Beat des Techno sich eine bestimmte Vorstellung männlicher Sexualität ad absurdum geführt hat.

In den gnadenlosen, unaufhörlichen Attacken der elektronischen bass drums wird eine in zahlreichen Kulturen vorhandene Idee des Männlichen als des Aggressiven, Kraftvollen, Durchdringenden verknüpft mit der Wunschvorstellung, dass diese Eigenschaften unerschöpflich und beliebig abrufbar seien:

Der wahre Mann, so diese Projektion, ist, wer immer will und immer kann - und das mit unwiderstehlicher Macht.

Natürlich ist diese Verknüpfung Unsinn. Schon die Physik lehrt uns die Unmöglichkeit der unerschöpflichen Kraftquelle. Und es gibt keinen biologischen Prozess, der solch eine ständige Verausgabung verziehe. Da aber dieses Bild nun einmal die Köpfe der Männer befruchtet hatte, musste man wenigstens alles dafür tun, damit man einen Stellvertreter habe, der allzeit bereit und stets kraftvoll sei - eine Maschine.

Männer bauen also die Maschinen, die sie ersetzen. Dieser Prozess beginnt bei der Dampfmaschine und wird beim virtuellen Sex mit der Maschine enden - dem sogenannten Cybersex, bei dem ein Mensch in einen Anzug steigt, der seinen Körper so stimuliert wie bisher nur andere Menschen es taten. Und es werden viele dabei die überraschende Entdeckung machen, dass die Maschinen nicht nur ausdauernder und williger sein werden als Männer, sondern im Vergleich zu den meisten Exemplaren dieses Geschlechtes auch präziser in ihrer Liebkosung.

II
Ritual Virility ist ein Wortspiel, ein Schüttelreim eben jener Virtual Reality, von der im letzten Absatz kurz die Rede war. Virtuelle Realität ist die Rückseite einer Fiktion von Männlichkeit, die in fast allen Kulturen nur durch Männerbünde, d.h. patriarchalische und Frauen ausschließende Ritualgemeinschaften, ihren Fortbestand sichern konnte.

Wenn diese Fiktion von Männlichkeit sich mit der Realität der gewandelten Geschlechterrollen in einer äußerlich immer ziviler werdenden Gesellschaft konfrontiert sieht, so bleibt ihr nur eins - die Flucht in virtuelle Realitäten. Wohl deshalb beschäftigen diese sich soviel mit vorzivilisatorischen Zuständen, in denen es noch Superhelden gab, erzeugen Simulationen archetypischer Räume und steinzeitlicher Vorgänge.

Virtuelle Realität ist also die wie selbstverständliche Fortschreibung eines archaischen Körperbildes, das mit dem der heutigen Welt kaum noch übereinstimmt. Denn unsere Körper sind nicht mehr die gegebenen Subjekte in einer äußeren Welt, wie die Virtual Reality uns vorgaukeln will. Vielmehr sind sie, wie auch die uns umgebende Natur, zu Objekten geworden, die man nach eigenen Vorstellungen gestaltet - vom Muskel-Studio bis hin zur Schlankheits-diät und zur Schönheitsoperation.

Unsere zeitgenössischen Körper unterliegen einem Gestaltungsanspruch, von dem die Virtual Reality uns befreit: indem sie uns den Körper (und sei es auch ein fiktiver, in den wir hineinschlüpfen) als subjektiven Erzeuger und Gestalter der Realität zurückgibt, führt sie uns in die magische Sphäre der rituellen Männlichkeit zurück, die unsere Hirne vor der Entmachtung des Körpers durch die Maschine erfüllte.

Es ist eine amüsante Volte, dass die Maschine nicht nur die klassischen Attribute der Männlichkeit ihres Mythos entkleidet, sondern uns auch in gewissem Sinne zurückgibt, was sie uns genommen hat, indem sie eben diesem Mythos im Echtzeitprogramm einen neuen Daseinsraum schafft.

III
Ritual Virility Machine ist ein Titel, der sich auf dieses Phänomen bezieht, und all jene anderen, die in den Sätzen dieses Programmhefttextes nur gestreift werden konnten. Was dieser aber nun mit der Musik zu tun hat, die sie gehört haben, oder noch hören werden?

Nun, die meisten Texte in Programmheften haben mit der inneren Wirklichkeit der Musik, über die sie reden, reinweg gar nichts zu tun. Das Schlimme ist dabei, dass sie oft so fixiert auf ihren Erklärungsdrang und ihre Besserwisserei sind, dass sie weder richtig von der Musik reden, noch von irgend etwas anderem, das einen auch nur im Geringsten interessieren könnte.

Ich habe also diesen Programmhefttext als Text über ein Phänomen geschrieben, das ich für interessant halte, und schreibe eine Musik, die ich für interessant halte. Wenn Sie, lieber Leser und Zuhörer, zwischen beiden eine Verbindung herstellen wollen, sei Ihnen das unbenommen. Ich aber lade Sie lediglich ein, meinen Gedanken, meinen Klängen zu folgen und daraus ein durchaus vergängliches, vielseitiges Vergnügen zu ziehen. Sie können sich selbstverständlich auch darüber ärgern, wenn Sie Zeit zum Ärgern übrig haben.

Musik ist halt Musik, und Texte sind Texte. Ähnlichkeiten und Beziehungen zwischen beiden sind rein zufällig und nicht herstellbar. Wie im wirklichen Leben auch ist das Aufeinander-treffen von Weltsichten, die miteinander harmonieren, ein Glücksfall, den keine wie immer geartete Virtual Realities herbeiführen können. Auch und gerade dann nicht, wenn sie so rituell maskulin sind wie die virtuellen Welten großer Musikwissenschaftler und -philosophen.


Oper ist Subkultur

1
Die Frage nach der Zukunft ist stets eine Befragung der Gegenwart: Man möchte die Möglichkeiten des Kommenden im gerade Geschehenden erkennen.

Bei der Oper ist eine solche Analyse des Zeitgenössischen besonders schwierig, weil ihre Vergangenheit auf unseren Bühnen so viel präsenter ist als ihre Gegenwart.

Im Falle der Oper ist die Frage nach der Zukunft meist nicht eine Frage nach den Entwicklungsmöglichkeiten, die etwaige Tendenzen des aktuellen Opernschreibens aufweisen, sondern die mit klammem Herzen vorgetragene Hoffnung der Opernliebhaber, die Oper möge wieder so gesellschaftlich wichtig und künstlerisch impulsgebend werden, wie sie dies in einer glorreichen Vergangenheit einmal war. Damit, so hoffen diese unverwüstlich treuen Fans dieser Gattung, würde ihre Passion ebenfalls den begehrten Nimbus der kulturellen Avantgarde erhalten, den z.B. die Begeisterung für Avantgarde-Film, Medienkunst, Tanztheater, Architektur oder Photographie derzeit deren Liebhabern verleiht. Der Besuch der Oper soll aus dem Ghetto des Rentner-Abonnements, dem haut-goût arrivierten Protzes, dem tuntigen Umfeld der opera queens, dem Society Getue heraus und in die seriöse Kunst hinein. Was Wagner wollte, werde Wirklichkeit: Oper als schlechthin die maßgebliche Form ästhetischer Auseinandersetzung.

Diese Hoffnung ist wohl vergeblich. Wagner würde heute Hollywood-Filme drehen, und wie einst Charlie Chaplin eben auch seine Musik selber schreiben. Die Oper wäre ihm wohl zu wenig illusionistisch und zu wenig publikumswirksam. Und für diejenigen Opernfans, für die nicht das Gesamtkunstwerk, sondern die Vokalartistik und das Spektakelhafte der italienischen Tradition den eigentlichen Reiz dieser Gattung ausmachen, genügt in fast jeglicher Hinsicht der jetzige Alltags-Opernbetrieb sowieso - und es ist auch gar nicht einzusehen, warum man ihren durchaus verständlichen Wunsch nach wundervollen Stimmen und sinnlichem Rausch einer ästhetischen Modernisierung unterziehen sollte. Diese Art von genießerischer Leidenschaft für die Oper ist schließlich europäisches Kulturerbe und in etwa so bewahrenswert wie der Kölner Dom oder die Altstadt von Venedig.

Bleiben die Feinde der Oper, die ihre Attacken gegen die Oper mal gegen die Kunstform, mal gegen die Institution richten - und beide Male im Grunde die von ihnen verabscheute bildungsbürgerliche Kultur meinen. Ihnen kann man eigentlich nur entgegenrufen: Wer sich mit Schmähreden gegen die Oper aufhält, entzieht sich seiner gesamtgesellschaftlichen Verantwortung!

Warum noch die Oper angreifen, wenn die reichsten Menschen der Welt (wie z.B. Bill Gates) nicht mehr in die Oper gehen, sondern Rockmusik lieben? Warum den Protz der Altreichen anprangern, wenn die tatsächliche Gefahr für den Geist von all den Jazzanthologie-Käufern und Joe Cocker-Hörern in Chefetagen und an Börsenplätzen rund um die Welt ausgeht? Die gemütliche alte Tante Oper ist, so betrachtet, geradezu eine besonders subtile Form des gesellschaftlichen Widerstands gegen die Ex-und-Hopp Mentalität der Medien- und Wertpapierwelt.

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Um diesen Komplex zu entwirren, müßte man zuerst einmal all das aufzählen, wofür das Wort Oper gemeinhin steht:

Oper kann das zu schreibende Werk meinen - oder den Opernbetrieb - oder das gesell-schaftliche Ereignis. Alle drei sind kurioserweise in der Krise.

Die Oper als Werk ist in der Krise, weil in der musikalischen Avantgarde über lange Zeit hinweg die Oper als der Inbegriff des künstlerischen Kompromisses angesehen wurde, als die unseriöseste musikalische Form. Dass dies so gesehen wurde, hängt mit der Art zusammen, wie eine Opernaufführung entsteht. Bei keinem anderen musikalischen Werk, muß der Komponist so viele zentrale ästhetische Aspekte seines Werkes nicht nur in die Kontrolle anderer Mit-Künstler geben, sondern auch vom Funktionieren eines meist kunstfernen Betriebes abhängig machen. Ist ein Pianist nur gut genug, kann ein Klavierstück auch unter miserablen äußeren Bedingungen zu einem künstlerischen Ereignis werden - eine Oper nicht. Eine Oper zu schreiben ist für einen Komponisten, dessen ästhetische Prägung der in der Neuen Musik zum Topos gewordene Kontrollzwang über seine Arbeit ist, eindeutig die Tätigkeit mit dem ästhetisch unbefriedigendsten Verhältnis von Aufwand und Ergebnis.

Die Oper als Betrieb aber steckt ebenfalls in einer Malaise: Oper zu machen ist so teuer, dass in Zeiten öffentlicher Geldknappheit jeder Intendant sich mit der an ihn von Politikern herangetragenen Frage befassen muß, ob es berechtigt sei, so viel Geld für den Genuss so weniger Bürger auszugeben. Er muß also kürzen. In dieser Situation rächt es sich bitter, dass viele Opernhäuser nach dem Kriege als staatliche Institutionen errichtet wurden: Die meisten ihrer Angestellten beziehen gewerkschaftlich vereinbarte feste Gehälter. Der einzige Bereich der Oper, in dem folglich das Kürzen von Bezügen ohne juristische Folgen möglich ist, ist dann - das künstlerische Programm. Wenn diese Entwicklung sich fortsetzt, so wird die Oper in Bälde zu einem großen Haus mit vielen Angestellten, die zwar alle alimentiert werden, aber nicht mehr das produzieren, was der eigentliche Grund für die Existenz dieser Institution ist - Opern.

Dass aber Politiker diese Frage überhaupt stellen, hängt mit der gewandelten sozialen Funktion der Oper zusammen: Oper ist nicht mehr die Kultur der Eliten.

In ihrer Blütezeit war die Oper sozusagen das größte Spektakel ihrer Zeit. In einer Zeit, als die europäische Kultur noch dominant war, gehörte die Oper zu den Institutionen, die man mit der High Society verband. Diese Oberschicht traf sich zu wichtigen Opernereignissen (noch zur Uraufführung des Rosenkavaliers wurden Sonderzüge eingesetzt), die neben dem Kunstgenuss auch eine wichtige Gelegenheit boten, sich des eigenen Status zu vergewissern.

Aber gerade diese Elite hat sich in den letzten Jahrzehnten von Grund auf gewandelt: Sie ist nun eine global fein verteilte, nicht mehr an ein Land und eine Kultur gebundene Schicht, die sich unter- und übereinander medial verständigt - auch in ihrem Verhältnis zur Kultur. Wenn der Besuch der Oper früher vor allem dem Sehen und Gesehenwerden diente, so kann dies in der medialen Gesellschaft viel effektiver bei anderen Gelegenheiten geschehen, die es nicht erfordern, sich drei Stunden auf unbequemen Stühlen mit kreischenden Primadonnen, einem für ein gepflegtes Geschäftsgespräch viel zu lauten Orchester und einer unverständlichen, langen Handlung auseinanderzusetzen.

Will eine global agierende gesellschaftliche Elite eine prägende Kultur, so ist die Oper dafür nicht mehr die adäquate Kunstgattung - es sei denn in ihren Spin-Off Produkten wie Opernbällen und den drei Tenören, bei denen man die Weihe der alten Tradition mit der Unverbindlichkeit medialen Konsumierens verbinden kann.

Oper war schon immer teuer - aber ihre Wertschätzung in den maßgeblichen Kreisen der Gesellschaft bewahrte sie vor Schlimmerem. Wenn diese Wertschätzung schwindet, schwindet auch das politische Interesse an einer Kunstform, bei der man weder Geldgeber noch Wahlvolk gewinnen kann.

So rutscht die Oper allmählich ab in die Subkultur - ästhetisch, finanziell und sozial. Das kann man als kulturelle Katastrophe deuten. Aber diese Situation bietet auch Chancen.

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In die Oper zu gehen ist nicht mehr wie früher eine gesellschaftliche Aussage, sondern das Ausüben einer privaten Vorliebe, etwa so wie der Hang zu italienischer Küche oder das Praktizieren eines bestimmten Einrichtungsstils.

Die Begeisterung für die Oper wird zu einer Facette eines bestimmten Individuums. Nicht mehr das Vorzeigen der Abendgarderobe und das gemeinsame Versinken in schöne Stimmen - beides nach außen gewandte Erlebnisformen - machen das Opernerlebnis aus, sondern die schöne Stimme und das samtrote Ambiente werden zu kulturellen Chiffren, die neben dem Haarschnitt, den Labels der Modedesigner, dem direkt vom Erzeuger erstandenen Öko-Wein und der Begeisterung für iranische Filmemacher der inneren Re-Komposition des urbanen multikulturellen Individuums dienen.

Und wenn Freddie Mercury mit Montserrat Caballé die Oper erfolgreich und ganz ohne Ironie persifliert, wenn ein Musical wie "Das Phantom der Oper" mit den Klischees der Oper reüssiert, wenn der Szene-DJ Dorfmeister seine neue Formation "Tosca" nennt und Opernmusik aller Epochen genauso in seine Kompilationen einbaut wie ehedem Drum & Bass, so wird eindeutig, was zuerst nur Verdacht war: Oper ist Subkultur geworden.

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Oper ist die perfekte Kunstform des Überbordenden, der Mischung, des Heterogenen, des Irrealen, der Inkohärenz. Das war sie schon immer, und man könnte die Krise der Oper durchaus in Zusammenhang mit den Bestrebungen der modernen Ästhetik bringen, die alle Kunstäußerung auf essentielle Grundkonzepte reduzieren wollte, die vielfältigen Mäander und Deltas der künstlerischen Imagination in begradigte Bette leiten wollte.

Einer solch obsessiv reinlichen Ästhetik mußte die Oper nicht nur verdächtig scheinen, sondern geradezu gefährlich. Die Boulez'sche Forderung aus den Sechzigern: "Sprengt die Opernhäuser in die Luft!" bezog ihre Energie denn auch weniger aus sozialem Engagement (gerade Boulez ist eher elitär als revolutionär) als vielmehr aus dem Ideal einer purifizierten avantgardistischen Ästhetik, die aufräumen wollte mit all den so genannten Ungereimtheiten, Kompromissen und Halbheiten der traditionellen Oper.

Der avantgardistische Frühjahrsputz hat die Opernhäuser verändert - und die Opern. Statt bekannte, märchenhafte oder einfache Geschichten mit einem größtmöglichen Aufwand an erzählerischer Phantasie zu umgeben und mit schöner Musik zu garnieren, war die avantgardistische Oper aufgefordert, stringente, in sich konsistente, in jedem Moment stimmige Großkunstwerke zu produzieren, die auch die jeweils aktuelle Situation des musikalischen Materials inkorporierten - und dabei stets die Oper als Kunstform und gesellschaftliche Metapher kritisch in Frage stellten. Daraus konnte ja nichts werden.

Die Komponisten, die modern sein wollten und Lust hatten, eine Oper zu schreiben, mußten sich in unglaublichen Verrenkungen üben, um in ihren Kreisen noch akzeptabel zu bleiben. Daher das Genre der Literaturoper (das in seiner Unsäglichkeit nur noch übertroffen wird von Theater, das Erfolgsfilme adaptiert) und daher auch zahllose Experimentalopern, die trockener waren als das Papier ihrer Programmhefttexte. Eine neue Form entstand, das sogenannte Musiktheater, das die Nachteile philosophischer Spekulation mit den Nachteilen experimenteller Musik zu verbinden suchte.

Trotz alledem hat diese gefährliche Operation am lebenden Organismus der Oper ihr ungewollterweise das Überleben gerettet. Mit neuen Organen (effizienteren und ästhetisch versierteren Opernhäusern) und einer neuen Haut (dem Regietheater) ausgestattet und nicht zuletzt mit einer neuen Generation von Sängern und Musikern bevölkert, die viel neugieriger und umfassender ausgebildet sind als ihre Vorgänger, könnte die Oper ein neues Leben beginnen. Nur - warum? Und wie?

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Wenn man sich in einer Subkultur bewegt, dann kann man alles mögliche sein, nur nicht: konsensfähig. Will also die Oper ihrer neuen Funktion gerecht werden, so darf sie auf keinen Fall glauben, dass ihr Heil davon abhängt, den allgemeinen Publikumsgeschmack zu treffen. Der wird schon von Film und Fernsehen so effektiv besetzt, dass eine Oper, die ihm hinterherläuft, immer alles verlieren wird - ihre Besonderheit und das Publikum.

Um Oper dagegen als cool, bizarr, schräg und hip erscheinen zu lassen, muss sie sich erst einmal nicht besonders anstrengen. Wie z.B. Filme von Peter Greenaway oder Luc Besson gezeigt haben, gilt in weiten intellektuellen Kreisen die Oper ohnehin schon als ein Hort der eigenartigsten ästhetischen Gebilde auf diesem Planeten. Wovor Oper sich aber auf jeden Fall hüten muß, das sind Purismus, eine Theaterästhetik des Realismus, der Entpathetisierung.

Opern sind rituelle Kunstwerke, deren Ritual pathetisch ist. Mit anderen Worten: In einer Oper kann es weder um die beispielhafte Demonstration von Theorien gehen, noch um die Erzählung stringenter Geschichten. Wollte man ein mathematisches Bild dafür bemühen, so könnte man sagen, dass Opern weder Linien sind (also logische Ketten), noch Flächen (also in der Zeit sich auffächernde Spannungsverläufe), noch Körper (also bestimmte Konstellationen von Zeit, Erzählung und Darstellung), sondern quasi Tesserakte (vierdimensionale Würfel) - in Opern gehen verschiedene Weisen der Zeiterfahrung (musikalische Zeit, erzählte Zeit, agierte Zeit und reale Zeit) und verschiedene Weisen der Darstellung (realistisch, zeichenhaft, magisch und formal) komplexe Verbindungen ein mit Erzähltechniken, die von der geradlinigen Chronik bis zu der Sprunghaftigkeit innerer Monologe reichen - und vor allem mit den unendlichen Tiefendimensionen musikalischer Semantik. Jede Oper ist nicht nur eine spezifische Gemengelage all dieser verschiedenen Aspekte, sondern darüber hinaus noch ein von Pathos (d.h. unbedingtem Willen zur Vergrößerung des Lebens) und Ritual (d.h. der Sehnsucht nach Sakralisierung des Lebens) verdichtetes ästhetisches Gebilde.

Gerade diese Komplexität macht Oper zur missverständlichsten Kunstform - denn da sie alle Möglichkeiten ästhetischen Erlebens anbietet, aber selten in Reinform durchführt (weil ihre raison d'être ja die Durchführung des komplexen Gesamtorganismus ist), werden kategorisierende Seelen stets von ihr düpiert: Wer in einer Oper seine Aufmerksamkeit auf die Entfaltung weniger Themen richtet, wird enttäuscht, weil sich meist kein einziges durch das ganze Stück zieht - jedenfalls nicht in der Konsequenz, die man z.B. von Theaterstücken oder Symphonien gewohnt ist.

Überhaupt benutzen Opern alle anderen Künste als Material: Kein Wunder, dass diese sie als ewigen Kompromiss empfinden. Keine der Künste kann in einer Oper die ihr als isolierte Kunst innewohnende Tiefe entwickeln - nicht die Dichtung, nicht die Musik, nicht die bildende Kunst, nicht das Theater. Aber warum empfinden viele dennoch die Oper als eine profunde Kunst?

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Es wäre vergeblich zu leugnen, dass selbst manche berühmte Opern als Kunstwerke lächerlich sind. Diese Lächerlichkeit beruht auf einem naiven Missverständnis, das über lange Zeit hinweg Opern lediglich als additive Kunstprodukte sehen wollte - als Theater mit Musik oder als Gesangszyklen mit verbindendem Handlungsfaden etc. Wenn man Opern in dieser Haltung schreibt, inszeniert, rezipiert (und diese Haltung ist auch heute leider noch weit verbreitet), so verkennt man den eigentlichen künstlerischen Impuls, der die Oper bewegt.

Dieser Impuls ist die Dynamik der Grenzflächen. Was eine Oper antreibt, ist nur selten ihr Libretto, oder alleine ihre Musik, noch weniger ihre Theatralik - eine auch von sonst intelligenten Menschen oft vergessene Binsenweisheit. Aber sie wird eben auch nicht von der bloßen Übereinanderschichtung all dieser Teilaspekte getragen. Das wirklich Spannende in der Oper spielt sich an den Grenzflächen zwischen diesen Künsten ab.

Was passiert, wenn ein politisch scharfsinniger Text auf Musik höchster Lyrik trifft? Wenn ein sehr reduziertes Bühnenbild eine Handlung von überbordender Phantastik deutet? Wenn in der Musik zehn Sekunden ein Leben erzählen und das Licht dazu unendliche Tiefe evoziert?

Solcherart sind die Fragen, die die Oper lebendig erhalten. Als Kunstgattung kann sie als einzige das leisten, was das reale Gebot unserer Zeit ist: ein Gefühl zu vermitteln für die genaue Qualität von Dialogen und Mischungsverhältnissen.

Als Künstler heute an einer Oper arbeiten, das heißt: all ihre verschiedenen Dimensionen nicht nur einzeln voranzutreiben, sondern vor allem auf die Reibungen zwischen ihnen zu achten. Die Arbeit an einer Oper verweigert sozusagen ästhetische Aprioris, weil diese stets an einen bestimmten Kunstkontext gebunden sind, dessen Integrität in der Oper von der Auseinander-setzung mit den Erfordernissen der gleichzeitig vorhandenen anderen Künste aufgerauht wird.

Um noch einmal an das mathematische Bild des Tesseraktes zu erinnern: Vielleicht könnte man die meisten bisher geschriebenen Opern an einem bestimmten Ort im Koordinatennetz dieses Tesseraktes verorten, mit einer bestimmten Konstellation von Zeitempfinden, Darstellungsweise, Erzähltechnik und musikalischer Semantik charakteristisch umreißen. Jede Oper wäre sozusagen eine Momentaufnahme eines bestimmten Punktes in diesem vierdimensionalen Raum.

Hier liegt für mich das ungeheuere Potential der Oper als Gattung: Diesen vierdimensionalen Raum nicht nur statisch zu erfassen, sondern in Bewegung. Mit anderen Worten: Reisen durch diesen Raum zu erfinden, die ständig neue Kombinationen der vier Grunddimensionen Zeit, Theater, Text und Musik ermöglichen. Opern, in denen man zum Beispiel in einer zyklischen Zeitvorstellung beginnt und über das Stadium der dynamischen Zeit bei einer Kugelgestalt der Zeit endet. Oder in der anfangs das realistische Theater dominiert, dann das kontemplative, und schließlich ein Theater der Grausamkeit entsteht. Mich würden hier Schnitte genauso interessieren wie Übergänge. Mich würde interessieren, welche Art von Reisen durch den Tesserakt ein Opernmacher wählt und warum. Ob es möglich ist, in ein und derselben Oper erst pathetische Operndramatik mit abstrakten Computermusikprozessen produktiv zu verbinden und gleich darauf luxurierende Polystilistik mit rituellem Nô-Theater.

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So definiere ich die Oper der Zukunft: Als ein ästhetisches Instrument zur Findung und Deutung von Mischungen.

Wir leben in einer Welt, in der die Fähigkeit, auf mehreren Ebenen zugleich zu denken und zu empfinden, immer bedeutsamer wird. Nicht nur die großen Meta-Erzählungen sind passé, auch die kleinen individuellen Erzählungen, ja unsere eigenen Lebensgeschichten lassen sich kaum noch als kohärente, klar strukturierte Verläufe darstellen. Jeden Tag lernen wir neue Arten, dieselben Ereignisse in unserem Leben anders zu sehen als bisher. Das Leben ist nicht nur doppelbödig geworden, sondern für die meisten Menschen schlicht bodenlos.

Die Versuchung ist groß, auf diese Situation mit der Sehnsucht nach simplen Erklärungen zu reagieren. Fundamentalismen aller Couleurs, Kommunitarismen und eine Ästhetik der reinen Rezeption ("gut ist, was mir gefällt") machen sich in jedem sozialen Milieu breit (und haben schon zu furchtbaren Kriegen geführt).

In dieser Lage muß die Kunst Gattungen und Konzepte erfinden, die auf ästhetischer Ebene das vorausdenken, was auf gesellschaftlicher Ebene nötig ist. Kunst ist ja nur sehr selten gute Kunst, wenn sie direkt politisch wird - aber die Öffnung des Geistes für anderes Denken wäre meines Erachtens nach eine wirklich politische Aufgabe.

Und hier könnte die oben beschriebene Konzeption der Oper sehr wichtig werden, mit ihrer sensibilisierenden Funktion für das Umgehen mit disparaten Tonfällen, den Grenzflächen und Übergängen zwischen verschiedenen Wahrnehmungsweisen und vor allem mit ihrer Möglichkeit, aufzuzeigen wie Verschiedenheit und Instabilität zu einem glückhaften Erleben führen können. Oper kann uns zeigen, wie man mit Ritual und Pathos, mit der Freude an der Gleichzeitigkeit der Gefühle, mit der Aufmerksamkeit für die Veränderung der Ideen von der Welt sein eigenes Leben als sinnvoll empfinden kann, auch wenn es in ihm keinen roten Faden mehr gibt.

Doch diese Möglichkeit ist zugleich auch der profundeste Grund, warum die Oper fortan eine Subkultur sein wird: denn nie wieder kann sie ästhetisches Zuhause für jene Eindeutigkeit, Unmissverständlichkeit und Wiedererkennbarkeit werden, die die Kritiker fordern und die den Medien gerecht wird. Die Zukunft der Oper ist Subkultur, weil die Kultur in der heutigen Welt nur noch dann überlebt, wenn sie nichts mehr zu sagen hat.


Gedanken über Wahrheit für Komponisten

geschrieben für das Symposion "Wahrheit in Musik und Theater "Frankfurt/Main 21.11.1998

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Seit ich denken kann, habe ich nicht an "Wahrheit" geglaubt. In den letzten Monaten ist mir aufgegangen, dass ich doch etwas für wichtig halte, das ich "Wahrheit" nennen könnte. Von der Spannung zwischen diesen beiden Polen handelt mein Vortrag.

Was ich "Wahrheit" nenne, ist allerdings so verschieden von dem, was mir die implizite Bedeutung dieses Wortes in vielen Kulturen zu sein scheint, dass ich keine systematische Darstellung der beiden Pole wählen kann, sondern ihnen Geschichten erzählen muß, in der Hoffnung, diese fänden sich in Ihren Köpfen zu Thesen zusammen.

Was Menschen, die sich der Frage der Wahrheit aussetzen, ein Leben lang antreibt, ist, so denke ich, die frühkindliche Erfahrung, dass Mutter und Vater zwei verschiedene Menschen sind, die vielleicht nicht immer einer Meinung sind, auch nicht immer alles wissen, aber doch in vielem gemeinsam recht haben und oft sich nicht nur untereinander stillschweigend einig sind, sondern mit allen anderen Menschen: dass abends zu Bett gegangen werden müsse, wie man sich bei Tische zu benehmen habe, dass Pünktlichkeit wichtig sei etc.

Sehr bald wird Kindern klar, dass es drei Arten von Richtlinien gibt: die, die es sich selber gibt: die eigenen Spielregeln; dann die, die andere ihm geben, also Erwartungen oder Anordnungen; und schließlich die, die niemand einem gibt, sondern die alle einfach befolgen. Letztere sind, so meine Vermutung, der Ursprung des Wahrheitsbedürfnisses. Man möchte, je weiter man in die Welt vordringt, immer wieder jene unhinterfragbaren, un-willkürlichen Regeln finden, die das Fundament der kindlichen Weltwahrnehmung waren: Gesetze, die weder von einem selber, noch von den Autoritäten, noch vom Zufall abhängen - eine stabile Wahrheit eben. Und da natürlich nichts in dieser Welt stabil ist, wird das Bedürfnis nach Wahrheit in den allermeisten Fällen zu einer metaphysischen Suche.

Nun weiß ich aus meiner persönlichen Geschichte, dass diese Generalisierung auf mich nicht zutrifft. Mein Vater ist Inder, meine Mutter Deutsche, ich bin in beiden Ländern aufgewachsen - und zu meinen Basiserfahrungen gehört die, dass ich z.B. Verhaltensmaßregeln nicht als universelle Gesetze anerzogen bekam: fast jede Regel gab es doppelt, einmal für Indien, einmal für Europa. Ich lernte als Kind, was ich auch als Erwachsener nicht mehr abschütteln kann: nämlich es keine fundamentalen Weltgesetze gibt, sondern lediglich angemessene Spielregeln für gewisse Situationen. Selbst als dann mein Interesse für die Naturwissenschaften zunahm und ich jahrelang Physiker werden wollte, erschienen mir die Naturgesetze nie als Sätze, die eine tiefe Wahrheit ausdrückten, sondern eher als Gebrauchsanweisungen und Konventionen, die Menschen zwar zum Wahrnehmen des Universums benötigen, die aber, aufgestellt zum Beispiel von Wesen, die in einem anderen Teil des Universums lebten oder zu einer anderen Zeit, anders lauten würden (und zumindest die temporale Varianz der Naturgesetze ist heute im übrigen tatsächlich eine in der Physik sehr ernsthaft diskutierte Theorie).

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Diese meine Erfahrung, dass das Aufwachsen zwischen zwei Kulturen in mir das Bedürfnis nach Wahrheit nicht vordringlich werden ließ, läßt mich vermuten, dass die Suche nach Wahrheit vor allem bei solchen Menschen gedeiht, die ihr Urerlebnis von Wahrheit aus einer relativ geschlossenen kulturellen Umgebung ableiten. Die seit der Renaissance und besonders stark in diesem Jahrhundert anwachsende Aggressivität und Borniertheit von Wahrheits-suchenden aller Art - also die starke Ideologieneigung in Politik, Wirtschaft, den Künsten, Geisteswissenschaft und Religion - hängt in dieser Sicht eng zusammen mit der Tatsache, immer mehr Menschen einerseits diesen Boden einer kulturell stabilen Kindheit nicht mehr erleben, andererseits mit einer für ihr erwachsenes Leben bestimmenden Umgebung konfrontiert werden, die für den Begriff der Wahrheit noch kaum andere Definitionen geprägt hat als solche, die explizit oder implizit metaphysisch sind.

Die Differenz zwischen der Abwesenheit eines metaphysischen Halts und der Anforderung, das Leben nach einem solchen auszurichten, bringt Pseudo-Metaphysiken hervor, die sich wahlweise auf kulturelle Traditionen oder strukturelle Konzepte stützen. Oder anders gesagt: Wer Wahrheit nicht als Kind erlebt hat, von den Büchern aber, die er liest und der religiösen Umgebung, in der er lebt, angehalten wird, sich zu einer solchen zu bekennen, verleiht von den drei Richtlinientypen seiner Kindheit entweder den Autoritäten oder seinen eigenen Spielregeln die Attribute einer universellen Wahrheit. Da dies aber stets sowohl eine willkürliche Entscheidung, die so tun muß, als sei sie ewig und evident, als auch eine Selbstverleugnung ist, braucht man nach den Gründen für Borniertheit und Aggression nicht lange zu suchen.

Dieser Vortrag ist nun keineswegs ein Plädoyer für eine Renovation der metaphysischen Wahrheit. Denn eine relativ geschlossene kulturelle Umgebung ist in Zukunft für kaum jemanden auf diesem Planeten die Welt, in der er aufwachsen wird. Wenn es also einen Weg gibt, den obigen Konflikt aufzulösen, dann nicht den, die angeblich ewige Bedeutung einer metaphysischen Wahrheit zu betonen, sondern die Suche nach Ansätzen, wie man inmitten einer allgemeinen Kontingenz, der Zufälligkeit der Spielregeln und Autoritäten, mit denen wir in unserem Leben zunehmend konfrontiert werden, Bedeutung und Sinn - also: nicht-metaphysische Wahrheit - in dieses Leben bringen kann.

Ich gestehe also offen, dass der Begriff der "Wahrheit" als Welterklärung und Fundament der menschlichen Existenz mir nichts bedeutet. Für viele große Künstler ist "Wahrheit" das Ziel einer konzentrierten Suche gewesen, jenes verschleierte Bild von Sais, dessen Schleier zu lüften zugleich schrecklich und unmöglich war, das aber vor allem, von ihnen gänzlich unabhängig, schon immer da gewesen ist. "Wahrheit in der Kunst" nannte man jene Fähigkeit der Künstler, in ihren Werken diese verborgene Wahrheit teilweise zu enthüllen, den Geist des Menschen also dazu zu verführen, mit seinen Sinnen das wahrzunehmen, was prinzipiell jenseits des Sinnlichen liegt.

Für mich ist Wahrheit jedoch nicht Gegenstand einer Suche, sondern Fund. Und sie liegt nicht jenseits des Sinnlichen, sondern ist ein Moment, an dem die unterschiedlichen Wahr-nehmungsformen der Sinne und des Intellekts sich nicht mehr trennen lassen. Sie ist weder verborgen noch offenbar - denn jeder dieser Begriffe geht von ihr als etwas Stabilem aus. Wahrheit ist aber für mich essentiell ein Phänomen der Flüchtigkeit.

Misstrauen Sie mir also genauso wie jedem, der von der Wahrheit spricht. Mein Vortrag ist willkürlich und persönlich. Aber da Wahrheit, sobald sie ästhetische und gesellschaftliche Geltungsansprüche erhob, fast immer Repression und oft sogar Blutvergießen zur Folge gehabt hat, bevorzuge ich diese Form der Auseinandersetzung mit dem Thema unseres Symposions.

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Für jemanden wie mich, dessen geistiger Horizont sicherlich am deutlichsten vom Diskurs der Naturwissenschaften geprägt ist, waren meine ersten Erfahrungen mit philosophischen Symposien sehr befremdlich. Ich hatte mir darunter unbewusst wohl so etwas wie einen naturwissenschaftlichen Kongress vorgestellt, auf dem einerseits Arbeitsergebnisse eingeordnet und andererseits Hypothesen zur Diskussion gestellt werden. Naturwissenschaft hat eine grundlegend dialogische Erkenntnismethodik, und Kongresse dienen insofern direkt der Aufgabe der Forschung. Ein philosophisches Symposion, so dachte ich ganz naiv, würde sich in ähnlicher Weise um philosophische Probleme kümmern, dort seien also Leute versammelt, die sich miteinander streiten wollten in der Einsicht, dass sie alleine mit den Fragen, die sie bewegten, nicht weiterkämen. Ein Symposion diene also dem Fortgang philosophischer Erkenntnis.

Ich hatte auch in Rechnung gestellt, dass Philosophen und Theoretiker anders als Naturwissenschaftler eher eigenbrötlerisch arbeiten, dass also der Dialog schwierig sein würde. Worauf ich nicht vorbereitet war, war die völlige Abwesenheit eines philosophischen Dialoges. Jeder der Eingeladenen lud seinen Beitrag ab, die daran anschließende Debatte verlor sich stets sehr schnell in persönlichen, stark von unausgesprochenen Gefühlen beherrschten Ausführungen - dann war der nächste Redner dran. Sie werden dieses Spiel auch heute erleben.

Es wurde mir sehr schnell klar, dass Symposien für Theoretiker und Philosophen die Bedeutung haben, die in großen Firmen das Golfspiel mit dem Vorgesetzten hat: Positionierung in den Augen der mächtigeren Fachgenossen, im Diskurs, am Markt. Symposien sind also Spiele. Sie dienen weniger der Förderung der Philosophie, sondern dem Fortkommen der Philosophen. Wie bei einer Messe misst sich Erfolg eines Vortrags bei einem Symposion an der Anzahl der Visitenkarten, die man ausgeteilt und eingesteckt hat.

Dies alles soll keine Denunziation sein, sondern weist für mich auf eine verbreitete Malaise hin, der nicht nur philosophische Symposien zum Opfer fallen: dass nämlich der Drang zur Wahrheitsfindung im Dialog desto weniger ausgeprägt zu sein scheint, je diffuser die Hoffnungen sind, die man an den Umgang mit Wahrheit knüpft. Warum miteinander diskutieren, wenn keiner mehr daran glauben kann, Zugang zur metaphysischen Wahrheit haben zu können? Dieser fast totale Zusammenbruch eines dialogischen Wahrheits-findungsprozesses, dessen Träger Symposien im Grunde wären, ist ein deutliches Anzeichen dafür, dass tatsächlich die Vorstellung einer metaphysischen Wahrheit die Kultur des Abendlandes so sehr geprägt hat, man nun, nach der Desavouierung der großen metaphysischen Erzählungen, nicht mehr so recht weiß, worüber man miteinander eigentlich streiten soll. Nur noch zwei Haltungen scheinen in dieser Lage möglich, von denen ich nicht recht weiß, welche mir unsympathischer ist: Fundamentalismus oder Coolness.

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Dieser Text, den ich ihnen vortrage, ist schon der dritte, den ich für dieses Symposion geschrieben habe. Das ist meine Arbeitsweise: ich schreibe sowohl Texte als auch Kompositionen oft mehrfach, wobei ich von den ersten Versionen Spuren und Erkenntnisse in die jeweils letzten Versionen übernehme, also mit mir selber in einen dialogischen Prozess trete, den ich oft nur aus Termingründen zu einem "fertigen" Werk hin stutze. Dies ist eine langsame Arbeitsweise, aber sie fördert in mir Erkenntnisse zutage, die meine Arbeit zugleich reicher und klarer machen. (Gerade hier ist übrigens die Computersimulation des algorithmischen Teils meiner Kompositionsprozesse ein ungemein hilfreiches Utensil, weil es einem z.B. erlaubt klangliche Ergebnisse komplexer Algorithmen im Verfahren des positiven Feedback zu finden.)

Ich möchte an dieser Stelle einige Argumentationslinien aus dem ersten Text, den ich "Wahrheit für Komponisten" übertitelt hatte, paraphrasieren. Es war dies ein Text, der im Stile des Wittgensteinschen "Tractatus" von einer Prämisse zur Schlussfolgerung immer wieder logisch aufgeschlüsselt war. Darin war viel die Rede von der Dichotomie des Wahrheits-begriffs, der seit Beginn der Philosophie zwischen Flamme und Kristall (zwei Begriffe Calvinos) oszilliert hat - Flamme heißt hier "die Wahrheit als ständige Bewegung zwischen der Welt und uns" und Kristall steht für "die Wahrheit als inhärente, strukturelle Eigenschaft der Welt".

Wo, fragte ich mich also, finden wir Wahrheit - in der Analyse der Dinge oder in ihrem Gebrauch? Was, so ging der Gedanke weiter, bedeutet "Wahrheit in der Musik" denn, und wo findet man sie dort? Und was ist schließlich überhaupt Musik - das, was Komponisten in ein Werk schreiben (ob bewusst oder unbewusst, sei jetzt dahingestellt) oder das, was Musiker spielen?

Ich ließ mich zu weitläufigen Gedankenspaziergängen entlang dieser Themen hinreißen, die zum Beispiel eine Zeitlang um den Zusammenhang zwischen Archiven und Wahrheit zu kreisen begannen: Denn, so formulierte ich, würden wir ernsthaft glauben, dass Wahrheit eine Eigenschaft der Welt sei, die es zu entdecken und deren Struktur es zu erfassen gelte, dass also Wahrheit außerhalb unserer Weltwahrnehmung als unabhängige Instanz existiere, dann hätten wir nie Archive angelegt.

Eine dergestalt wahrheitsgläubige Kultur bedürfe nämlich keiner Erinnerung an frühere Werke, in denen sich einmal Wahrheit manifestiert hatte. Denn eine solche Manifestation ließe sich jederzeit durch ein neues, in traditioneller Manier ausgeführtes Werk wiederholen.

Tatsächlich legen Kulturen, die die Wahrheit nicht in Anführungszeichen setzen, in ihrer Kunst den Hauptakzent auf die Herstellung. Der traditionelle Weg, auf dem Kunst entsteht, enthält den Schlüssel zur Wahrheit, nicht das entstandene Kunstwerk. In diesem Produkt etwa vorhandene Wahrheiten sind also Nebenprodukt, nur für den aktuellen Bedarf von Bedeutung, und Diskussionen über Wahrheit in einer solchen Kultur in etwa so wichtig wie Diskussionen über Messer und Gabeln.

Nun, so ging meine Argumentation weiter, könne man an der Tatsache, dass wir Partituren und neuerdings auch Klangarchive für Musik entwickelt hätten, erkennen, dass wir jeglichen Glauben an Wahrheit in der Musik schon lange verloren haben. An dieser Stelle fügte ich einen kleinen Hinweis auf jenen nahezu mythischen Bischof von Paris ein, der um 1100 als einer der ersten die bis dahin übliche Praxis durchbrach, sakrale Musik (ähnlich wie Weihrauch und Kerzen) als sich verbrauchendes Akzidens zum Ritual zu verwenden.

Er forderte Wiederaufführungen gelungener sakraler Werke, maß also der ästhetischen Repräsentation von Wahrheit einen höheren Stellenwert bei als dem Mysterium des Glaubens. Ihm verdanken wir auch die ersten überlieferten Komponistennamen, Leonin und Perotin, seine Gottesdienstanweisung ist sozusagen der Ursprungsmythos der abendländischen Musik mit ihrem Historizismus und ihrer ästhetischen Suche nach Wahrheit.

So stellte ich fast bestürzt fest, dass die abendländische Musik eine ewige Wahrheit wohl immer wieder suche, sie aber nie finden werde, weil es diese Art von Musik überhaupt nicht gäbe ohne den profunden Zweifel an einer transzendenten Wahrheit. Abendländische Musik kann durch ihre wirkmächtigen ästhetischen Mittel zwar auf eine solche Wahrheit verweisen, diese aber nie repräsentieren, geschweige denn sein. Ihr gelegentlich feststellbarer Drang zu Mystik und Transzendenz sind ihrem Wesen nach metaphysische Exotismen.

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Der amerikanische Sozio-Anthropologe Edward T. Hall hat in den letzten Jahren mehrere Bücher wie "Hidden Culture" oder "Silent Languages" oder "Beyond Culture" veröffentlich, in denen er sich mit den jeder Kultur zugrundeliegenden unhinterfragten kulturellen Paradigmata befasst. Seiner Auffassung nach befinden wir uns in der Analyse dessen, was unsere Kultur zu unserer macht, welche Prämissen sie unbewusst leiten, noch völlig am Anfang, ja nicht wenige Geistesmenschen würden vehement bestreiten, dass z.B. gewisse sogenannte "Universalismen" in Wirklichkeit zufällige Konventionen sind: die Art und Weise zum Beispiel, wie wir Raum, Zeit oder Sexualität in unserer Kultur handhaben. Darüber nachzudenken sei, so Hall, ähnlich schwierig wie in einer schriftlosen Kultur eine Grammatik zu entwickeln: die Sprecher einer schriftlosen Sprache bestreiten in der Regel vehement, dass ihre Sprache überhaupt Konventionen habe - sie selber empfinden sie als gänzlich informell.

Hall führt als Beispiel die arabische Welt an: Dort ist die Schriftsprache das sogenannte klassische Arabisch, das auch bei offiziellen Anlässen gesprochen wird, die Umgangssprache der Menschen ist aber eine andere, regional unterschiedlich gefärbte Sprachform, die man nie aufschreibt. Das klassische Schrift-Arabisch ist natürlich schon seit Jahrhunderten von den arabischen Grammatikern kodifiziert worden - für das Alltagsarabisch gab es solche Regeln nicht. Als nun Linguisten im Auftrag verschiedener westlicher Regierungen beginnen wollten, für ihre Diplomaten Lehrbücher zum Umgangsarabisch zu verfassen, stieß man auf die Hürde, dass niemand in der arabischen Welt dieses Unterfangen ernst nahm. Ihre Alltagssprache sei nicht grammatisch, sagten die Befragten, man könne sie einfach so lernen, die Kenntnis ihres Vokabulars reiche vollkommen aus, da gebe es nichts zu formalisieren.

Natürlich stimmte das nicht - und heute kann man überall Touristensprachführer für Umgangsarabisch kaufen, die sehr wohl Kapitel über die Grammatik enthalten. Kulturen und kulturelle Subsysteme wie z.B. die Kunst, sagt Hall, sind immer von Konventionen bestimmt - und wenn sie einem besonders formlos erscheinen, kann man sicher davon ausgehen, dass ihre Konventionen den Akteuren in dieser Kultur verborgen bleiben.

Ein Beispiel in der Musik ist der Umgang mit Zeit: "Neue Musik" ist sicherlich die für das gebildete Publikum sperrigste zeitgenössische Kunstform. In zeitgenössischen Partituren findet man viele der möglichen Weisen, mit Zeit umzugehen. Es scheint hier keine formellen Regeln dafür zu geben, wie man mit Zeit umgeht. Dennoch haben alle Musikhörer dieser Kultur genaue Vorstellungen davon, wie musikalische Zeit ablaufen kann. Wenn also ein Musiktheoretiker in einem Aufsatz Musik, die er für ästhetisch fragwürdig hält, auch noch deshalb moralisch verwerflich findet, weil sie einem beim Anhören-Müssen kostbare Lebenszeit raube, so wird er trotz aller sonstigen Distanz zum Gebaren und der Gedankenwelt der westlichen Wirtschaftswelt in dieser mehr Verständnis für seine ökonomische Betrachtung der Zeit finden, als bei einem ihm ansonsten vielleicht geistesverwandten Musiktheoretiker z.B. Indiens. Dass dieser kategorische Imperativ an den Komponisten, die Zeit seiner Hörer nicht zu verschwenden, auch aus anderen kulturellen Konventionen resultiert wie z.B. der, dass man in dieser Kultur für die ganze Dauer eines Werkes stillsitzen muß, kommt noch erklärend hinzu. Dies wiederum hängt damit zusammen dass Musik hierzulande normalerweise Werkcharakter hat, die Zeitorganisation also nicht aus dem Kontext der Aufführung resultiert, sondern ohne Berücksichtung des Kontextes in die Partitur geschrieben wird etc.

Diese kulturellen Kategorien prägen selbstverständlich auch das, was den wahrnehmbaren Wahrheitsgehalt eines Kunstwerkes ausmacht. Solange man mit Sicherheit Aussagen treffen kann wie: "Sprache sind Kunstwerke nur als Schrift." oder behaupten kann, dass die ideale Rezeption von Kunstwerken die "stumme inwendige" sein müsse, solange ist nur allzu deutlich, wie sehr der Autor dieser Sätze seiner mitteleuropäisch-jüdisch-christlichen Kultur verhaftet geblieben ist, selbst wenn seine "Ästhetische Theorie" (denn von Adorno ist hier die Rede) auf dem Weg zu einer Akzeptanz der Fremdheit anderer ästhetischer Konzepte sehr weit vorgedrungen ist.

Das Wort "Ästhetik" kommt vom griechischen Wort "aisthesis", das Wahnehmung bedeutet. Das deutsche Wort "Wahrnehmung" verweist wiederum darauf, wie Wahrheit entsteht: wir nehmen die Welt für wahr. Das was wir sehen, hören, deduzieren etc. sind Sachverhalte, die wir für wahr halten, weil wir sie dafür nehmen, das heißt willkürlich ergreifen. Was man sieht und hört und deduziert, ist aber durch die Kultur, in der wir leben, so stark vorgeformt, dass es nicht auch noch metaphysisch wahr sein kann.

Weil Wahrnehmung demnach in viel umfassender Weise kulturell bedingt ist, als wir uns im allgemeinen zugestehen, sind sowohl Ästhetik als auch Wahrheit nie universelle Konzepte. Man kann niemanden, der unsere Prämissen zu Zeit, Raum, Menschen, Logik etc. nicht teilt, von irgendetwas überzeugen, was uns evident erscheint - es sei denn mit Gewalt. Vergangene Jahrhunderte haben es gewusst, dass man "Wahrheit" nie durch geduldige Gespräche, sondern nur durch Feuer und Schwert verbreiten kann.

Das ausgehende 20. Jahrhundert hat dafür lange an die angeblich "humanere" Variante universeller Rechts-, Bildungs- und Kunstsysteme geglaubt - ohne sich dessen bewusst zu werden, dass zum Beispiel der internationale Stil der abendländischen Avantgarde sich nach dem 2. Weltkrieg nur deshalb so mühelos über die Welt ausbreiten konnte, weil der Westen ebendiese Welt seit Jahrhunderten blutigst kolonisiert hatte. Die "Humanität" der "universellen" Wahrheiten des Westens muß auf andere Kulturen wirken wie die Freundlichkeit, die der Polizeichef einem Gefolterten zukommen läßt, wenn er sich heuchlerisch über die Exzesse seiner Schergen empört, um damit das Vertrauen des Opfers zu gewinnen - und so dessen letzten inneren Widerstand zu brechen.

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An diesem zynischen Tiefpunkt meines Aufsatzes angelangt, sehr weit von meinem ursprünglich philosophiebeflissenen Ausgangspunkt entfernt, möchte ich noch einmal die Frage aufnehmen, ob man es in diesen Erscheinungen, die wir Musik nennen, in irgendeiner Weise mit Wahrheit zu tun habe - und wenn ja, in welcher Art und Weise. Dabei hatte sich mir vorhin die Frage aufgedrängt, ob Musik das sei, was Komponisten komponieren oder das, was Musiker klanglich erzeugen? Vor ein solches Dilemma gestellt, zuckte wahrscheinlich ein vernünftiger Musikliebhaber die Schultern, murmelte was von: "... wohl beides zugleich, je nach Art und Blickwinkel in unterschiedlicher Gewichtung..." und fügte vielleicht mit spöttischem Unterton hinzu, Musik sei das, was aus der Stereoanlage komme.

Da landläufig das Reden und Schreiben über Musik nun aber ziemlich selten etwas mit Vernunft, dafür sehr viel mit einem intellektuellem Balzritual zu tun hat, hat sich diese falsche Dichotomie im musikalischen Diskurs des 20. Jahrhunderts festgefressen, bis hin zur Erfindung und Hierarchisierung zweier musikalischer Welten: auf der einen Seite die Welt der "Neue Musik" (also der zeitgenössischen ernsten Musik), die für eine schwer partiturorientierte Sicht der musikalischen Sachverhalte steht und für kulturell wertvoll erachtet wird; auf der anderen, interpretations- und klangorientierten Seite alle andere Musik, Pop, Rock, Jazz, außereuropäische Musik. (Die klassisch-romantische und frühmoderne Konzertliteratur wird je nach Situation mal der einen, mal der anderen Seite zugeschlagen.)

Eine immer wieder zitierte Anekdote besagt, dass Johannes Brahms Musik am liebsten folgendermaßen angehört habe: auf seinem Sofa ausgestreckt, die Zigarre im Mund und die Partitur in der Hand - ohne Stereoanlage das Ganze selbstverständlich. Er vernehme, so soll er gesagt haben, auf diese Weise die Musik schöner, als wenn sie vom besten Orchester gespielt würde, nämlich "stumm inwendig", wie Adorno gesagt hätte.

Man kann kaum radikaler betonen, worum es also einem solchen Musikrezipienten in der Musik geht: nämlich um ihre angebliche platonische Struktur. Auch Adornos berühmte De-finition des idealen Hörers, der im Hören der Musik ihre innerste Struktur analytisch erfasse, rekurriert auf diese Vorstellung von der Musik als einem komplexen klangarchitektonischen Gebilde, bei dem das wichtigste nicht der reale Klang, sondern verschiedene Abstrakta seien: strukturelle Beziehungen der Tonhöhen, Klangfarben, Dauern und Mikro- bzw. Makrostrukturen. Das den Sinnen zugängliche Ereignis des musikalischen Erklingens wird in dieser Sicht schon als Kompromiss empfunden, als verschmutzt und der Erkenntnis nur in analytischer Aufbereitung zuzumuten.

Nun ist aber Brahms auch als einer der Komponisten bekannt, der sich über die emotionale Aura seiner Musik am meisten getäuscht hat: er hat seine Musik stets als hinstrebend zum lichten Ideal Mozart'scher Leichtigkeit empfinden wollen, uns kommt sie dagegen eher auf massive Weise romantisiert und gar nicht luftig vor. Ob diese Fehleinschätzung mit der "stummen Inwendigkeit" seines Musikempfindens zusammenhängt?

Das hier evozierte Bild vom Verborgensein der Wahrheit in der Struktur der notierten abendländischen Musik gerät aber nun in einen profunden Konflikt mit jener a-mystischen Grundierung ebendieser abendländischen Musikkultur, die ich oben ansprach: der Impuls, der erst die sakrale Mehrstimmigkeit und dann die gesamte nicht-sakrale Kunstmusik des Abendlandes ermöglichte, war die Überzeugung, dass ästhetische Kriterien wie Schönheit, Stringenz, Rationalität und Komplexität wichtiger seien als die mystische unio mit einer transzendentalen Glaubenswahrheit. Weshalb auch man eben fast die gesamte sakrale Musik des Abendlandes als eine Musik des verlorenen Glaubens bezeichnen könnte.

Kein Wunder, dass sich an diesem Punkt immer wieder die Gemüter erhitzen: hier prallen die Musikhörer, die sich in der sinnlichen Wahrheit des Zuhörens verlieren, also die unio mystica mit der Musik suchen, auf jene Musikhörer, deren profundestes Musikerlebnis die Erkenntnis der tieferen Zusammenhänge der Partitur ist.

Und genau an diesem Punkt scheitert auch jeder Versuch einer positivistischen Deutung von Wahrheit in der Musik. Zwar mögen die einen oder die anderen unter diesen Musikhörer-gattungen sich die Welt so definieren, dass ihr Modus von Erkenntnis tiefer, reicher oder sonst irgendwie besser sei als der jeweils andere - aber wir wissen, dass es ein Streit der Definitionen ist, nicht eine Folge musikalischer Realitäten.

Ist Musik das, was Komponisten schreiben oder das was Interpreten spielen - an dieser Frage hängt letztlich jedes Suchen nach Wahrheit in der Musik...und diese Frage ist nur per willkürlichem Edikt zu beantworten. Denn der Modus des Hörens, dem eine Person anhängt, entscheidet wesentlich darüber, wo sie Wahrheit sucht und welche Wahrheit sie dann findet. Und dieser Modus verlässt die Immanenz sowohl des Momentes der Aufführung als auch jeglicher in der Partitur inkrustierten Struktur der Wahrheit derart, dass einem von der musikalischen Wahrheit nichts in den Worten bleibt als ihre epistemologische Abwesenheit. Wahrheit ist auch in der Musik eine Frage des Kontextes.

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An diesem Punkte angekommen stellt sich mir die Frage, was ich denn sonst noch über musikalische Wahrheit zu sagen hätte - außer ihre Dekonstruierbarkeit zu thematisieren. Denn trotz all der oben vorgeführten Probleme mit der Wahrheit kann man unerfindlicherweise nicht komponieren ohne die Vorstellung, dass Musik irgend etwas mit Wahrheit zu tun habe. Wahrheit ist für Komponisten denn auch weniger eine Frage als eine Prämisse.

Hier böten sich spontan zwei Auswege aus dem Sumpf an: Der praktisch-zupackende und der unpraktisch-emergente.

Der praktische Ausweg sagt: "Wahrheit ist aus verschiedenen Gründen sehr begehrenswert, aber ich kann nie wissen, was sie ist, sondern nur, dass - und vielleicht noch worin - sie mir nützt. Da ich nicht wissen kann, was sie ist und will, kann ich sie nicht verführen oder erreichen, dass sie freiwillig bleibt. Also nehme ich sie mir einfach. Behaupte von den Dingen, die mir wichtig sind, sie seien wahr. Setze die Wahrheit in ihnen gefangen und untermauere durch lautes Mundwerk meinen Besitzanspruch."

Dieser Weg bietet sich gerne für avantgardistische Bewegungen jedes Zeitalters an, die klein anfangen, sich gegen übermächtige Wahrheitssysteme behaupten, und ihre Produkte im Betrieb positionieren müssen. Es ist aber gleichzeitig auch dieser Weg, den ich am Anfang erwähnte, der mich jahrelang davon abgehalten hatte, das Wort "Wahrheit" auch nur in meine Gedanken zu lassen.

Denn: Wer im ästhetischen Bezirk zu oft das Wort "Wahrheit" im Munde führt, denkt meist an die Bekämpfung von Falschheit. Diese Tätigkeit des Bekämpfens hat aber die ungute Tendenz, sich ihrer Inhalte zu entleeren: Wo viel die Wahrheit angerufen wird, dort höre ich allzu oft das Wort "Ausmerzen" als Oberton mitschwingen.

Der unpraktische Ausweg hingegen verzichtet auf das, was die praktischen Zupacker so entzückt: nämlich die Wahrheit als Nutzen und Notwendigkeit. Das Phänomen "Wahrheit" ist für diese Betrachtungsweise eher jener "Anmut" anzunähern, der Kleist seinen Dialog "Über das Marionettentheater" gewidmet hat. Ein anmutiger Mensch, sagt Kleist, verliert seine Anmut in dem Moment, in dem er sich ihrer inne wird - und sie zu reproduzieren versucht. Ein Komponist, der in einem Werk Wahrheit gefunden hat, so könnte man in Anlehnung daran sagen, verliert diese, wenn er weiß, welcher Natur sie ist - und sie in einem neuen Werk zu reproduzieren versucht. Wahrheit ist keine kompositorische Ressource.

7
In der Computertechnologie wird zur Zeit fieberhaft der sogenannte Quantencomputer entwickelt, der die quantenphysikalischen Eigenschaften der Materie für neue Rechnerarten nutzen soll, die im Vergleich zu heutigen Computern ein Vielfaches an Speicherplatz und vor allem Rechengeschwindigkeit bieten sollen.

Jedoch: Komplexe Quantenspeicher enthalten gerade deshalb so viele Informationen, weil sie aus lauter Möglichkeiten bestehen, die genau solange in ihrer ganzen Fülle existieren, bis man eine Vermessung des Speicherinhaltes vornimmt - dann verschwinden sie, alle, bis auf eine Tatsächlichkeit, die die Antwort auf die gestellten Frage darstellt.

Das Problem der Computerbauer klingt dabei recht simpel: Wie kopiere ich den Inhalt eines Quantenspeichers in einen anderen? Denn jeder Vorgang des Kopierens ist ebenfalls eine Vermessung - und zerstört damit das Original. quantum states sind also nicht reproduzierbar.

Man sollte hier nicht vergessen, dass es sich bei der ganzen Problematik nicht um irgendwelche technischen Probleme oder Grenzen des menschlichen Intelligenzhorizonts handelt, die eine exakte Kopie nicht zulassen. Es sind auch keine spitzfindigen, rein logischen Probleme, die man mit ein wenig gesundem Menschenverstand und Bastelei beseitigen könnte: Nein, das Kopieren von quantum states ist eine der definitiven Grenzen dessen, was physikalisch erfassbar ist. Es ist eine absolute epistemologische Grenze, so wie die Lichtgeschwindigkeit.

So wird also spätestens an dieser Grenze klar, dass wir, wenn wir die Schattenanbeter bleiben wollten, die wir seit Platons Höhlengleichnis gewesen sind, das heißt, wenn wir darauf beharrten, weiterhin eine stabile, wenn auch verborgene Wahrheit in den Strukturen der Welt zu vermuten, die sich uns in Kunstwerken oder sonstigen geheimen Chiffernschriften, wie Novalis sie nennt, enthülle - dass wir dies wie in einem Spiel tun müssten.

Wir müssten uns einreden, es gäbe irgendwo in der Natur die perfekte Kopie eines Quantenzustandes, die wir nur erkennen müßten, um an diesem Schussfaden das Gewebe der Welt entwirren zu können. Der Glaube an eine objektive und metaphysische Wahrheit, die sich in der Struktur von Kunstwerken manifestieren könne, ist ein Spiel, das wir nur deshalb noch gerne spielen, weil wir die Glocke noch nicht hören wollen, die uns zum Nach-Hause-Gehen ruft.

8
Es dürfte inzwischen wohl jedem hier klar sein, welche Wahrheitsvorstellung auf meiner intellektuellen Visitenkarte steht: Wahrheit ist für mich eine immanente Beziehung zwischen uns und der Welt. Sie verweist auf nichts und ist nicht für Kunstwerke nutzbar. Sie folgt für mich einer fünffältigen Formel:

Wahrheit ist demnach polylogisch, holothetisch, präsentisch, ephemer und emergent .

Polylogisch ist Wahrheit darin, dass sie nicht durch einen einzigen Diskurs zu bestimmen ist. Sie entzieht sich der Festschreibung in einen linearen Diskurs, entsteht nicht im hierarchischen Verlauf, sondern in der Überlagerung mehrerer heterogener Diskurse. So entsteht zum Beispiel die Wahrheit einer Liebe nicht in den noch so stringenten Deutungen, die jeder der Liebenden über diese Liebe anführen würde, sondern sie entsteht aus dem Ineinander von Körperdiskurs und Geistesdiskurs, von Alltagsordnung und Moment der Begegnung etc. - und ist so weder in Kausalketten eingebunden noch lokalisierbar.

Diese Nicht-Lokalisierbarkeit nenne ich, in Anlehnung an Begriffe wie "synthetisch" oder "ästhetisch": holothetisch. Damit ist gemeint, dass der Sitz der Wahrheit a) sich nirgendwo außerhalb des Wahrheitszusammenhanges befinden und b) sich innerhalb des Wahrheits-zusammenhanges entweder gar nicht oder an jeder Stelle finden kann. Mit anderen Worten: Welche Wahrheit in einer bestimmten Liebe gilt, nimmt man von außen gar nicht, und von innen schon daran wahr, wie die Geliebte einem das Brot reicht, auch wenn diese Geste allein niemals die Wahrheit dieser Liebe bedeuten könnte.

Wahrheit ist präsentisch: will sagen - ihre Realität ist ständig wandelbar. Wahrheit mag in seltenen Fällen und zu manchen Momenten nicht mehrdeutig sein, sondern eine einzige - aber diese einzig wahre Wahrheit wird nie über die Zeit siegen: Wahrheit ist in der Zeit changierend und vielfältig. Sie befindet sich in einem unablässigen Jetzt. Alle "Wahrheiten", die über den spezifischen Moment hinaus Gültigkeit beanspruchen, sind lediglich Spekulationen, die entweder in jedem Moment falsifizierbar sein müssen (wie z.B. naturwissenschaftliche Theorien) - oder die schlicht Konventionen sind.

Nichts anderes sagt auch die Behauptung, dass Wahrheit ephemer, also vergänglich sei. Diese Vergänglichkeit ist aber nicht jene "große" irdische Vergänglichkeit, die alle Produkte menschlichen Strebens der physischen Vernichtung zuführt, sondern Wahrheit ist vergänglich in einem ganz strengen Sinne - Wahrheit ist ein bestimmter, zeitlich eingegrenzter Zustand der Existenz, der aus zahllosen Faktoren, Vektoren und Konjunktionen besteht und aus diesem Grund nie mehr in just dieser Konstellation wiederkehren wird. Man kann einen solch momentanen Zustand in Grenzen beschreiben und analysieren - allerdings stets mit dem Wissen, dass man über eine Vergangenheit nachdenkt, die nur sehr schwache, für uns irrelevante Verbindungen mit der Gegenwart unterhält.

9
Der Zusammenfluss der Diskurse, die Konjunktionen von Strömung und Zufall, die Phasenkorrelationen zwischen Welt und Betrachter - all dies bewirkt nicht nur die Unvorhersehbarkeit und sich der Nutzung entziehende Natur der Wahrheit, sondern lassen sie auch auf unerwartete Weise mehr sein als nur die Überlagerung als dieser Phänomene: Wahrheit ist emergent, sie läßt eine Wirklichkeit entstehen, die tiefer reicht als die einzelnen Prozesse vermuten lassen würden - und ihre Emergenz zeigt sich darin, dass die Disparatheit der Welt plötzlich zu verschwinden scheint. Wahrheit ist ein flüchtiger Schimmer von Harmonie in einem ansonsten unsere Wahrnehmung überflutenden Wirbel von Dingen, Empfindungen, Sinnesgestalten und Formen des Denkens.

Deshalb auch kann Wahrheit zur persönlichkeitsverändernden Droge werden, die viele an der Wirklichkeit verzweifelnden Menschen zur Sucht wird und sie an Ewigkeit, Evidenz und alles glauben läßt, was eine stete Versorgung mit Wahrheit verspricht. Gerade in Zeiten, in denen der Wirbel sich heftiger zu drehen scheint, Zeiten in denen neue Elemente und Strömungen den Wirbel verändern, die alte Droge also nicht mehr wirkt, suchen sie mit allen Anzeichen der Verzweiflung die Wahrheits-Dealer auf - und quälen, stehlen, betrügen, ermorden für sie.

Diesen Zusammenbrüchen der Harmonie werden wir nicht entkommen, indem wir die Resonanzen einiger weniger Harmonien verstärken, oder indem wir aus Angst vor solchen Zusammenbrüchen die Relevanz von Wahrheit und Harmonie für das Leben der Menschen schlankweg abstreiten. Wahrheit ist lebensnotwendig - aber wir finden sie weder im Beschwören alter Rezepte und Systeme, noch in der Suche nach Eindeutigkeit oder ewigwährender Harmonie.

Harmonie ist stets flüchtig und kennt nicht Stabilität noch Ewigkeit. Komponieren ist für mich das Suchen nach jener flüchtigen, unvorhersehbaren, emergenten Harmonie. Im Finden neuer und unbekannter Harmonien von Rhythmus, Klang und Welt begegne ich jener Wahrheit, die weder "Gewissheit" noch "Authentizität" bedeutet, weder "Übereinstimmung mit den Tatsachen" noch "göttliche Offenbarung", sondern schlicht das Glück eines in seiner Tiefe und seiner Weite tatsächlich gelebten Moments.


Komponieren im 21. Jahrhundert

Für eine Ästhetik der Polyvalenz

grenzenlosigkeit

1. Vom Verschwinden der weißen Flecken
Nicht nur, weil alle vom Millenium reden, befindet sich das Komponieren derzeit in einer kritischen Situation.

Im naturwissenschaftlichen Bereich bezeichnet das Wort "kritisch" einen Zustand der Schwebe zwischen verschiedenen Möglichkeiten der Entwicklung. Kritische Punkte sind solche, an denen ein bestimmter komplexer Zustand in einen anderen umschlagen kann. Solcher Natur scheint mir auch die Situation des zeitgenössischen Komponierens zu sein.

Die Symptome sind bekannt - und trotz eines immens gewachsenen Medieninteresses und einer Fülle an Festivals, Preisen, Stipendien, Ensembles und Musikern scheint eine eigentümliche Leere den Betrieb zu beherrschen. Ob es nun daran liegt, dass jene Neue Musik, die einen guten Teil ihres Elans aus der Provokation etablierter Hörgewohnheiten zog, diesen Glamour verlieren muss, wenn das ehemals Neue zum akustischen Alltag geworden ist, oder ob nur die tiefe Angst der ehemaligen Avantgardisten vor einer Zeit nach der Moderne den heute geschriebenen Werken das Label "epigonal" geradezu zwanghaft anheften muß - und ihnen somit jenes Recht auf ästhetische Aufmerksamkeit abspricht, das sie, die altgewordenen Rebellen, noch immer für sich beanspruchen - Tatsache ist, dass kaum eine neue Komposition eines jüngeren Komponisten in den letzten zehn Jahren nennenswerte ästhetische Debatten ausgelöst hat.

Kaum jemand glaubt noch die Konzertprogrammfloskel von den so genannten "unerhörten" Klängen, die "Happy New Ears" sind ein Kalauer ohne Schmunzelfaktor. Die ganze Rhetorik der Neuen Musik, das unablässige Schwadronieren vom immerzu "neuen Tonfall", angefangen bei den so genannten "individuellen Klangsprachen" bis zur berühmten "beklemmenden Intensität", vom so genannten "experimentellen Gestus" bis zum fast schon obszönen Bejubeln des pathetischen "Verstummens" erscheint als ein kläglicher Versuch, mit Worten das zu inszenieren, was die heute komponierte Neue Musik selbst nicht mehr sagen kann - oder vielleicht auch nur nicht will.

Helmut Lachenmann hat einmal seine Arbeit mit der Erstbesteigung eines Achttausenders verglichen: einer lebensgefährlichen Expedition über die Grenzen des Bekannten hinaus. Nur um dann über jene zu spotten, die seinen Spuren folgend, ebenfalls, nun aber als Touristen, diesen Berg erklömmen.

Diese Metapher gewinnt in der Beschreibung jener Krise, die die Neue Musik plagt, eine neue Bedeutungsschicht: Denn auch in Wirklichkeit sind alle wesentlichen Großabenteuer dieses Planeten bestanden, alle Achttausender hinreichend bestiegen. Und manche kompositorischen "Großtaten" am Ende diese Jahrhunderts erinnern einen denn auch an die Lebensentwürfe eines Reinhold Messmer oder Arved Fuchs, deren "Neuheit", wie man weiß, nicht darin besteht, qualitativ neue Abenteuer zu bestehen, sondern schon von anderen erlebte Abenteuer quantitativ zu überbieten - nicht ein Achttausender gilt noch was, nein, alle muss man besteigen.

2. limits, frontiers, boundaries
Es will scheinen, als seien uns unsere Grenzen abhanden gekommen.

"Grenze" ist ein Wort, das sich im Deutschen gerne für Missverständnisse hergibt, weil es so unterschiedliche Dinge bezeichnet wie

1. die Erschöpfung des Möglichen

2. die Scheidewand zwischen zwei Formen

3. den Übergang ins Unbekannte.

Im Englischen unterscheidet man hier feiner: limit für die Grenze als Endpunkt, boundary für die Grenze als Trennlinie, frontier für die Grenze als beweglichen Erfahrungshorizont.

Viel schlechte Kunst beruht nun auf einem Missverständnis der sattsam missbrauchten ästhetischen Floskel von der "Grenzüberschreitung": limits kann man nur unter Lebensgefahr überschreiten, boundaries zu überschreiten ist je nach sozialer Situation mehr oder weniger möglich und nicht allzu spektakulär, frontiers hingegen müssen überschritten werden, sonst sind sie keine.

Einer der Tricks mancher Künstler besteht nun darin, eine frontier zu überschreiten (ein ganz normaler Vorgang), dabei aber den Heroismus für sich zu reklamieren, den eine Überschreitung der limits mit sich brächte. Um die obige Metapher Helmut Lachenmanns noch einmal aufzugreifen: Neue Spieltechniken und Klangerzeugungsmethoden am Instrument, wie er sie fand, sind zwar tatsächlich eine "Grenzüberschreitung", aber eine, die sich fast zwingend aus einer Großtendenz der Musik der letzten 200 Jahre ableiten lässt, jener der sogenannten "Materialerweiterung" nämlich. Eine klassische frontier-Überschreitung also, die aber schon in obigem Zitat als eine "Grenzüberschreitung" der limit-Klasse daherkommt: Niemand soll sie ihm "nachmachen".

Genau hierin liegt ein innerer, folgenreicher Widerspruch: Die Überwindung der frontier zielt immer auf nachfolgende Besiedelung des eroberten Terrains. Ans limit aber geht man individuell. Wer limits überschreiten will, will als ein einsames Genie rezipiert werden, wer frontiers durchstößt, sieht sich in eine viel gesellschaftlichere Verantwortung eingebettet. Man könnte diese Verschleierung als billigen Marketingdreh abtun - wenn sie nicht auch Folgen für das so entstandene Werk hätte: Denn hier reiben sich zwei ganz unterschiedliche Vorstellungen davon, worin der Sinn eines Kunstwerkes begründet liegt.

Der erste Ansatz vermutet den Sinn künstlerischer Arbeit in einer Art von Gesellschafts-hygiene: Ob nun als Kompensation, Sublimation oder Provokation, der Künstler betreibt sozusagen eine Art Psychoanalyse der Gesellschaft, zeigt in seinen Kunstwerken verborgene Strömungen auf, weist auf Missstände hin, spricht heimliche Sehnsüchte aus.

Der immanente, systemtheoretische Ansatz hingegen sieht Kunst im Wesentlichen als ein in sich geschlossenes System, Kunst spreche immer nur von Kunst. Ihre Existenz sei quasi eine biologische Determinante des Menschen - so wie Sprache oder Lachen gehöre Kunst zu dem, was den Menschen ausmache. Sie biete eine Art kommunikative Parallelsozialisierung an, in der Denkformen und Verhaltensweisen erprobt und strukturiert werden könnten. Kunst habe keinen direkten Nutzen, sondern sei gesellschaftlich nur insoweit relevant, als sie die allgemeine Lebens- und Kommunikationstüchtigkeit einer Gesellschaft erhöhe, ähnlich wie eine gute Ernährungslage oder gute medizinische Versorgung.

Beide Auffassungen empfinden demnach Grenzüberschreitungen auf verschiedene Weise: Wer Kunst als Quasi-Psychoanalyse der Gesellschaft sieht, für den gibt es keine limits, auch keine frontiers, sondern nur boundaries: von der Gesellschaft selbst gezogene Grenzen, die z.B. Kunst von Nicht-Kunst trennen, die Künste untereinander separieren, einen Stil vom anderen unterscheiden, guten Geschmack und Pornographie säuberlich sortieren etc. Die Arbeit der Künstler besteht nun gerade darin, das Zufällige dieser Grenzen aufzuzeigen und sie auf diese Weise verschiebbar zu halten. So wie Revolutionen niemals den Menschen verbessern wollen dürfen, wenn sie nicht scheitern wollen, so darf auch die Kunst bei Strafe der Irrelevanz nicht an die Limits des Menschlichen, des Gesellschaftlichen vorstoßen.

Jene, für die Kunst jedoch ein von Relevanzüberlegungen freier Ausdruck der menschlichen Fähigkeit zur spielerischen Simulation wirklicher Strukturen ist, definieren die Tätigkeit der Künstler anders: Künstler stoßen in dieser Sicht frontiers auf, indem sie an ihr persönliches limit gehen. Sie verletzen Grenzen, die niemand definiert hat, sondern die bisher schlicht noch niemandem aufgefallen sind. Sie definieren diese Grenze erst und verletzen sie dann.

So könnte man z.B. vermuten, dass jeder Klang und jeder Akkord in der Musik des 20. Jahrhunderts schon früher einmal erklungen ist. Musiker haben ihn gespielt, als Fehler empfunden oder als schlicht nicht interessant. Es gab hier keinen Regelungsbedarf: ähnlich wie man vor 1903 keine Regelung für nationale Hoheitsrechte im Luftraum treffen musste. Grenzen wurden erst nötig, als diese Akkorde und Klänge in den Bereich des Wahrnehmbaren rückten: A-Tonalität zum Beispiel benötigt eine definitorische Grenze nicht etwa zur Musik Rameaus, sondern nur zur ihr klanglich sehr nahen fortgeschrittenen Funktionstonalität. Und erst als diese Grenze gezogen war, konnte man sie überschreiten.

3. Vom Verschwinden der Grenzen
Nun also können wir die Frage noch einmal verschärft aufgreifen: Welche Art von Grenzen sind uns Komponisten nun abhanden gekommen?

Die merkwürdige Antwort lautet: alle drei. Und paradoxerweise ist es gerade unsere exzessive Beschäftigung mit ihnen, die sie zum Verschwinden gebracht hat.

Als allererste wurden die Grenzüberschreitungen der Musik-Revolutionäre zur Farce. Es ist heute sonnenklar, dass Revolutionen nicht kreativ, sondern vor allem reaktionär wirken. So haben z.B. Schönberg, Webern und Boulez die romantische Kunst zwar ihrer Nettigkeiten beraubt, aber nicht ihrer erotisch verklemmten Antriebskräfte, Stockhausen und der Fluxus haben Musik zur Religion anstelle der Religion gemacht - und alle haben den Geniebegriff der feudalen Gesellschaft ungerührt tradiert, ja aufgefrischt.

Indem sie aber das Revolutionäre in der Kunst nicht mehr als den natürlichen Lauf der Dinge gesehen haben wollten, in dem das Neue das Alte ablöst, sondern in den Range des eigentlichen kompositorischen Aktes erhoben, entleerten sie die Tat ihres Gegenstandes. Heute kann buchstäblich jede Art von Musik ein Tabubruch und revolutionär sein (man muss sich nur das richtige Publikum suchen) - und damit überschreitet natürlich keine tatsächlich die Grenzen des ästhetischen Kanons.

Als nächstes fiel auch jene frontier, die über 150 Jahre lang zentraler Kampfplatz musikalischer Experimente gewesen war: nämlich die "Materialerweiterung". Auch diese wandelte sich von einem generationenlangen Prozess plötzlich zur zentralen persönlichen Aufgabe eines jeden Komponisten. Heute ist jede Schallwellenbewegung potentielles musikalisches Material, jede Anordnung von Schallwellenmustern ästhetisch denkbar, jede Kompositionsmethode legitimationsfähig. Welche frontier soll sich da noch auftun?

Vor allem aber bedrängt die Komponierenden heute die komplette Durchlässigkeit auch aller ästhetischen boundaries. Bis in die 80er hinein gab es relativ klare stilistische Vorgaben dafür, welche Musik man in Neue-Musik-Kreisen ernst nehmen konnte und welche nicht. Die boundaries waren durch Geschichte, Tradition und soziales Umfeld wohldefiniert. Auch dies ist heute keineswegs so. Teilweise gehen die Grenzverletzungen mitten durch ein einzelnes Werk.

4. Ad nauseam
Dieser Prozess der Auflösung kunst-interner Abgrenzungen ist in seiner Tragweite noch unbekannt, da er in dieser Virulenz in der Musikgeschichte noch nicht zu beobachten war. Auch ist das pure Ausmaß des Stilreservoirs, das hier untereinander sich zu Legierungen (und Mesalliancen) verbinden kann, erdrückend: alle historischen Musiksprachen und alle gegenwärtigen, aus allen Musikkulturen der Welt, aus gelehrter und aus populärer Musik, aus den Musiksprachen aller Komponisten des 20. Jahrhunderts sind uns verfügbar, ja selbst die Literatur und die anderen Künste können zur Musik definiert und als Spielmaterial in die Komposition integriert werden, stehen mithin auch für Stilboundaryspiele zur Disposition.

Unsere Krise scheint also keine des Mangels, eher eine schlaraffische zu sein: wir haben uns den Magen verdorben an der fetten Kost, am luxurierenden Musiksprachenbankett und wissen nun nicht, wohin wir uns übergeben sollen. Will sagen: wie scheiden wir diesen Überschuss an Techniken, Positionen und Klangmöglichkeiten wieder aus, um zu jener Musik vorzudringen, die wir wirklich gerne komponieren würden?

komponistendämmerung

1. Computer
Wenn wir von Ratlosigkeit angesichts unbegrenzt erscheinender Möglichkeiten sprechen, muss nun endlich auch der Computer erwähnt werden, jene technische Neuerung, die in ihrer Tragweite für jeden Aspekt des Musikmachens alle bisherigen Beiträge des Instrumentenbaus zur Kompositionstechnik als vergleichsweise geringfügig erscheinen lässt.

Mit dem Computer ist es nicht nur möglich geworden, jeden beliebigen Klang zu erzeugen und wiederzugeben, der Computer hat auch Einzug in die Tiefenstruktur des Komponierens selbst gehalten. Meines Erachtens nach ist die Krise, die dem Komponieren durch den Computer zugefügt wird, ähnlich tief wie jene, die der Malerei durch die Photographie widerfuhr: Man wird in Zukunft sowohl unter Musik wie unter Komposition ganz andere Tätigkeiten und Erlebnisse verstehen als bisher.

Bevor ich also auf die oben gestellte Frage der Erschöpfung des Stiles und ihren möglichen Horizont eingehe, möchte ich kurz umreißen, in welcher Weise der Computer unser Verständnis von der Tätigkeit und von den Zielen des Komponierens verwandeln wird.

2. Komponieren und Improvisieren
Obwohl Komponieren eine vermutlich uralte Tätigkeit ist, ist der Beruf des Komponisten eine verhältnismäßig junge Vorstellung - gleich ob man sie mit der Schule von Notre-Dame (Beginn der Spezialisierung) oder mit Mozart (Beginn der sozialen Akzeptanz) einsetzen lässt. Und, so vermute ich, eine vergängliche, denn schon das nächste Jahrhundert könnte das Ende des Bildes vom Komponisten, wie wir es heute noch kennen, bringen - eine Tendenz, die schon seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts immer wieder gedacht und praktisch ausprobiert wird.

Mit der Erfindung der schriftlich fixierten Komposition ging eine Abwertung der Im-provisation einher: obwohl der überwiegende Teil der historischen und gegenwärtigen Musiken auf diesem Planeten der Improvisation einen beachtlichen Teil des musikalischen Endergebnisses zubilligt, hat diese im Laufe der abendländisch-westlichen Musikgeschichte immer mehr an Rang und Bedeutung verloren und ist heute für die Musikausübung im Bereich der sog. "ernsten" Musik marginal. Begründet wurde diese Gewichtsverlagerung stets mit einem - zugegebenermaßen sehr durchschlagenden - Doppelargument: dem der Strukturdichte einerseits und dem des Kreativitätsmehrwerts andererseits.

Strukturdichte besagt, dass in einer notierten Komposition der Fluss der musikalischen Gedanken und Bilder stringenter verlaufen könne als in einer Improvisation, mit reicheren inneren Bezügen und klareren Formverläufen - dies wiederum ermögliche eine komplexere und großräumigere Gesamtarchitektur der erklingenden Musik. Da man jederzeit die Kontrolle auch über eigentlich zeitlich weit auseinander liegende Musikereignisse behält, kann man sie hörpsychologisch eng miteinander verknüpfen und so den Kunstcharakter, das artifiziell Un-Tierische, das Geistige in der Musik stärker betonen.

Die Improvisation dagegen, mit ihrer Tendenz zur Ausschweifung und zur parataktischen Struktur schien das Musizieren zu nahe an der alltäglichen Sprache und Lebensführung zu belassen. Die Erfindung der Komposition und der Bau der großen Kathedralen fallen nicht zufällig zeitlich und räumlich zusammen: Wie die Kathedralen in ihrer wirren und undurchschaubaren städtischen Umgebung, so stand auch die komponierte Musik wie eine Insel der göttlichen Ordnung im gemeinen klanglichen Chaos der überall und jederzeit improvisierenden Welt.

Paradox, wie unser empfindendes Denken immer schon war, betont das zweite Argument für die Überlegenheit der Komposition gegenüber der Improvisation einen Aspekt, den wir gemeinhin eher als den Antipoden der eben genannten Strukturdichte empfinden würden: die höhere Kreativität der komponierten Musik. Wie ist das zu verstehen?

Ein Improvisator muss seine Musik in unglaublicher Geschwindigkeit komponieren: wenige Zehntelsekunden entscheiden über Melodieverlauf, rhythmische Stringenz und harmonische Fügung. Um die Anzahl gleichzeitiger Entscheidungen zu reduzieren und geistigen Raum für das musikalische Denken zu lassen, bleibt improvisierte Musik meist in einem dieser Bereiche relativ einfach - man verzichtet auf Harmonik, arbeitet mit rhythmischen oder harmonischen Zyklen oder ziseliert existierende Strukturen nur individuell aus. Oder man setzt immer wieder fertige Floskeln in den musikalischen Fluss ein, die den Musizierenden vom ständigen Inventionsdruck entlasten und ihm so erlauben, sich einen Moment lang mit dem weiteren Fortgang seiner Spontan-Komposition zu befassen.

Unter solchem Zeitdruck steht der notierende Komponist nicht - und dies erlaubt ihm, solange an seinen Erfindungen zu arbeiten, bis sie wirklich neuartige Musik ergeben, bei der nicht nur existierende Modelle variiert, sondern neue Modelle erstellt werden. So, sagen die Apologeten der komponierten Musik, schaffe die Komposition fundamental Neues, während das Neue in der Improvisation sich auf die Oberfläche der Musik beschränke.

3. Computer und Komponieren
Wie relevant ist diese Spaltung des Kompositorischen in Notieren einerseits und Improvisieren andererseits denn nun aber für die Frage des Computers in der Musik?

Dazu möchte ich kurz skizzieren in welcher Hinsicht der Computer das Komponieren essentiell verändert hat. Drei Aspekte scheinen hier von Bedeutung: die direkte Arbeit am Klang, die leichte Handhabung auch komplexester Musik-Architekturen und die Beziehung zwischen Musiker und Werk.

a) Skulpturales Komponieren im Klang
Mit der Arbeit in der digitalen Klangverarbeitung am Computer gibt es zum ersten Mal eine fixierende, also reproduzierbare Technik der Komposition mit dem eigentlichen Material des Komponisten, dem "erklingenden Moment". Bisher konnte nur der Improvisator seinen Klang direkt modellieren. Der/die Komponierende hingegen versuchte zwar, in immer detaillierteren Notationen sein Klangideal zu vermitteln, war dabei aber stets auf Klangphantasie und -geschmack anderer Musiker angewiesen. Er war in der Situation eines Kochs, der per e-mail ein weit entferntes Team zum Nachkochen eines neuen Gerichtes anleitet - ohne selbst abschmecken zu können.

Seit der Entwicklung der elektronischen Musik, noch intensiver seit der Entwicklung hochinteraktiver Klangbearbeitungsprogramme zieht der/die Komponierende im Grad seiner Kontrolle über seine künstlerische Äußerung den anderen Künsten gleich: wie ein Schriftsteller, ein Maler, ein Bildhauer kann er sein Werk in allen werkrelevanten Aspekten detailliert und endgültig formen.

Zwar ist mir dieses Bild vom Künstler als einem alles beherrschenden Gott nicht wirklich sympathisch, interessant aber finde ich die methodologischen Konsequenzen dieser Technik: Denn sie legt das improvisando auch im Kompositionsvorgang nahe. Zwar verhelfen auch hier Pläne und Strukturskizzen zu größerer Deutlichkeit, die intime Auseinandersetzung mit dem realen Klang aber erzeugt viel klarer als früher der Umgang mit dem abstrahierten Klang der Notenschrift ein fast haptisch zu nennendes intuitives Empfinden für die innere Logik der klanglichen Entwicklung - und anders als beim Improvisieren, wo jeder Klang im Moment der Ertönens verschwindet, kann man durch das wiederholte Hineinhören in einen komplexen Klang auch seine subkutanen Prozesse und Entwicklungslinien entdecken und somit in die musikalische Konzeption inkorporieren. Schon allein durch die skulpturale Klangarbeit nähert sich im Computer also die Komposition der Improvisation.

b) Computergestütztes Komponieren
Noch radikaler aber brechen alte Attitüden auf, wenn sich der/die Komponierende eines Kompositionshilfeprogramms bedient. Diese Programme sind so etwas wie der strukturale Schreibtisch des Musikentwerfers. In ihnen werden nicht so sehr Klänge verarbeitet als vielmehr die Abstrakta der Notation: Noten, Akkorde, Rhythmen. Dazu kommen Manipulationen an musikalischen Denkeinheiten, die bisher nicht direkt der Struktur-komposition zugänglich waren: Frequenzen, Zeitordnungen, logische Modulketten, mathematische Prozesse. Mittels dieser Programmiersprachen kann der/die Komponierende strukturelle Konzepte auf jeder nur denkbaren Ebene (vom Frequenzverlauf einiger Partialtöne über die Konstruktion großer harmonischer Schwerefelder bis hin zur Gesamtform eines Werkes) umsetzen.

Das allein ist noch nichts Neues und wurde spätestens seit der serialistischen Neukonzeption des musikalischen Diskurses nach dem 2. Weltkrieg schon in vielfältiger Weise an Musik durchexerziert. Nicht immer waren diese damaligen Strukturexperimente aber hör-psychologisch fruchtbar, was dazu beitrug, dass sie ein wenig in Verruf gerieten - und allenthalben wieder ein espressivo-Komponieren an Bedeutung gewann, das die gedankliche und strukturelle Komplexität jener Versuche als musikuntauglich ablehnte.

Mit dem Computer als Komponierutensil erkennt man nun, warum viele Experimente jener strukturellen Technik gescheitert sind: weil sie schlicht zu simpel waren. Ähnlich wie die schon vor mehr als hundert Jahren formulierten Prinzipien der heute so wichtigen Mathematik der Fraktale erst durch die quantitative Computersimulation qualitative Erkenntnissprünge zeitigen konnten, können auch musikalische Strukturprozesse erst mit der ständig steigenden Rechengeschwindigkeit und Leistung des Computers adäquat verarbeitet werden.

Erst durch diese Verarbeitungsgeschwindigkeit wird auch die Tiefenstrukur eines Werkes zur einem Gegenstand kritischer Bearbeitung. Denn selbst wenn früher jemand sich der tatsächlichen logischen und mathematischen Komplexität musikalischer Strukturprozesse bewusst war, so erlaubte ihm die damals notwendige monatelange Berechnung der individuellen Parameter meist nur die Berechnung einer einzigen Version seines Strukturmodells. Zu diesem in mühevoller Sklavenarbeit berechneten Modell konnte man sich dann nur auf zwei Weisen verhalten: es entweder in all seinen Konsequenzen akzeptieren oder - es als Leitlinie betrachten, von der man dann in der Komposition bewusst abwich, um der eigenen musikalischen Sensibilität Genüge zu tun. Eine weitere Version auszurechnen, vielleicht mit einer leichten Variation der Parameter oder mit einer zusätzlichen Rahmen-bedingung versehen - das überstieg meist die eigene Zeit und Kraft. Entweder man war also streng, aber unsensibel, oder man hörte genau hin - und arbeitete ungenau.

Diesen inneren Konflikt heben die Computersprachen für Komposition auf. Sie erlauben den Komponierenden, Schritt für Schritt ihre Strukturkonzepte ihrer musikalischen Sensibilität anzupassen. Jeder logische Prozess kann separat für sich oder im Zusammenspiel mit anderen modifiziert werden - man kann sich verschiedene Versionen vorspielen lassen und die subjektiv beste davon auswählen. Kompositorische Strukturen können nun also auch organisch-evolutiv komponiert werden, man kann sie wachsen lassen und im Wachstum beeinflussen. So wie bei manchen zeitgenössischen Architekten (z.B. Gehry und Kurokawa) werden auf diese Art vorher konstruktiv noch nie beherrschbare Formen möglich - und dennoch bis in ihre Details immer dem eigenen holistischen Formempfinden vertraut bleiben.

Auf diese Weise wird auch der sperrigste aller musikalischen Parameter, die Großform, dem kreativen, improvisatorischen Spiel zugänglich - und wird so von einer bislang eher esoterischen (und den meisten Komponierenden nur intuitiv zugänglichen) Beschäftigung zu einem der zentralen Bereiche der kompositorischen Arbeit.

c) Interaktive Spontan-Komposition

Ganz evident wird dies schließlich beim Einsatz des Computers im Spannungsfeld zwischen Musizierendem und der gespielten Komposition. Hier dienen Programmiersprachen dazu, eine ständige Kommunikation zwischen dem Spielenden und einem Computer zu ermöglichen, der wiederum selbst Klänge erzeugt. Sie sind in gewisser Weise eine Synthese der beiden obigen Ansätze und stellen meines Erachtens nach große Teile herkömmlichen Musikdenkens in Frage.

In einer interaktiven Komposition "hört" der Computer den von den Musizierenden erzeugten Klang und reagiert darauf, indem er Strukturen und Klänge berechnet, die er dann sofort synthetisiert und über Lautsprecher abspielt. Die Natur dieses Wechselspiels ist in dem Programm verkörpert, das der Komponist konzipiert hat.

Dieses Programm wiederum weist eine Art von Struktur auf, die bestimmte Eigenschaften des Improvisatorischen mit denen des Komponierten auf eigenständige Art und Weise verbindet: Solche Programme basieren einerseits wie Improvisationsmusik auf Floskeln, d.h. vorgefertigten Reaktionsmodellen. Dies können einzelne Klänge oder Filtereinstellungen, rhythmische Abläufe oder Melodiesegmente, harmonische Progressionen oder sogar vollständige musikalische Abschnitte sein.

Andererseits bestehen sie in gleichem Maße aus flexiblen Algorithmen, das heißt musikalischen Strukturmodellen (wie oben beim computergestützten Komponieren be-schrieben), die an sich noch keine Musik darstellen, weil ihnen zu ihrer konkreten klanglichen Ausformung gewisse Ausgangsparameter fehlen. Diese Ausgangsdaten holen sie sich von den Klängen, die die Musiker ihnen zuspielen - und erst daraus generieren sie dann Klänge und - musikalisch abstrakte Strukturen: So könnte zum Beispiel der Computer wiederum den Musikern auf einem Bildschirm Noten vorschlagen, die diese dann wiederum interpretieren und ihn auf diese Weise mit neuen Ausgangsdaten versorgen.

Man könnte sich bei dieser Beschreibung von ferne an das Zusammenspiel einer Gruppe von Free-Jazzern oder an Gruppenkompositionstechniken in indonesischen Gamelanensembles erinnert fühlen - wo ebenfalls jeder den anderen musikalische "Bälle" zuspielt und diese darauf antworten. Nur ist es hier wiederum die Rechenleistung, die Reaktionsgeschwindigkeit und -tiefe um eine so entscheidende Dimension erweitert, dass die entstehende Musik ganz unerwartete ästhetische Fragen aufwirft: Welcher Natur sind diese Klangfolgen? Sind es Kompositionen? Wenn ja, wer komponiert hier? Sind es Improvisationen? Wenn ja, was ist das Computerprogramm (das in gewissem Sinn eine komplexe musikalische Notation darstellt), wenn nicht eine Komposition?

4. Ist Komponieren menschlich?
Der Computer stürzt also die Komponisten und ihre theoretischen Begleiter in eine Krise der Selbstdefinition: Was ist und zu welchem Ende betreiben wir Komposition?

Diese Frage stellt sich heute in einer bisher unbekannten Schärfe. Denn während der Übergang zum Tätigkeitsbild des Komponisten sich über Jahrhunderte hinweg allmählich entwickelte, scheinen die neuen Computerprogramme immer mehr Bestandteile des klassischen Bildes vom Komponisten in immer kürzerer Zeit hinwegzufegen.

In gewisser Weise stellen sich ja auf anderen Gebieten (z.B. dem Schachspiel) ganz ähnliche Fragen. Was ist der Mensch, wenn er nicht Intellekt ist, so lautet das Rätsel des neuen Jahrhunderts. Der Computer kratzt vehement am Selbstbild des Kopfarbeiters, so wie vor zweihundert Jahren die Dampfmaschine den Muskelarbeiter veraltet aussehen ließ. Jahrtausendelang haben wir Menschen, und unter ihnen natürlich besonders unsere Denker, unsere eigene ausbeuterische Unbekümmertheit gegenüber der Natur mit unserem überlegenen Intellekt begründet - um jetzt vor der Möglichkeit eines Intellekts zu stehen, der uns in einiger Zeit übertreffen könnte.

Was ist das Handwerk des ernsten Komponisten, wenn es nicht die Erfindung und Beherrschung ausgefeilter Strukturen ist? Wenn Instrumentationsprogramme ihn in 80% aller Fälle ersetzen könnten? Wenn lernfähige neuronale Kompositionsnetzwerke über die Jahre einen eigenen Musikstil entwickeln könnten?

Eine mögliche Antwort geben Komponierende, die einer Ästhetik der intensiven Empfindung anhängen. Sie argumentieren nicht unplausibel: schließlich habe nur der Mensch menschliche Gefühle, deshalb sei auch nur er in der Lage, Musik für Menschen zu komponieren. Computer würden wahrscheinlich Musik für andere Computer schreiben, aber das sei eine eigene Welt, keine Silizium-Konkurrenz also. Man müsse sich nur darauf konzentrieren, den Systemen und Strukturen vehementes Misstrauen entgegenzubringen - und im übrigen in Freiheit komponieren.

Vom ewigen philosophischen Streitthema der Willensfreiheit einmal abgesehen, hat diese menschelnde Ästhetik Schwächen dort, wo es um ihre Definition des Menschlichen geht - denn diese ist in der Defensive: Sind es nicht gerade die angeblichen Großtaten des menschlichen Geistes, in denen die Computer am schnellsten vorankommen: das Schachspiel, die Mathematik, die Komposition? Gilt nicht in der KI-Forschung die Erkenntnis, dass es wahrscheinlich leichter sein wird, ein Programm zu erstellen, das Symphonien schreibt, als eines, das unsere Wohnung aufräumen kann, leichter eines, das Vorträge recherchiert, als eines, das ein banales Telephongespräch führen kann? Das Humane ist auf dem Rückzug in Bereiche menschlicher Existenz, die wir noch vor kurzem als eher unintellektuell bis animalisch bezeichnet hätten - und gerade nicht in jene Bereiche, die bisher als Ausweis der menschlichen Überlegenheit über die ungeistige Natur gegolten hatten.

Wer als sogenannter ernster Komponist sich neuerdings über seine menschliche Empfindungs-autonomie allein definieren will, flüchtet in eine ästhetische Ideologie, wie es sie gerade im 20. Jahrhundert in einigen sattsam bekannten Beispiele gibt - im sozialistischen Realismus, im Szientismus der 50er Jahre, in der so genannten "deutschen" Kunst der Nazis.

Nein, wir können in der Komposition nicht so tun, als hätte sich nichts geändert: als gebe es noch so etwas wie ein einheitliches kompositorisches Handwerk, wenn wir vor lauter Stilvielfalt nicht wissen, warum eine Note dort steht, wo sie steht; als gebe es noch die Figur des genialen Komponisten, wenn auch diese Tätigkeit nicht mehr ein Handwerk sein wird, sondern mindestens schon manufakturhaft organisiert (und deswegen nicht weniger inspiriert sein muss, wie die Vorläuferbeispiele Giacinto Scelsi und Philipp Glass zeigen). Wir können den Kopf nicht in den Sand stecken vor der Tatsache, dass Computer uns bald bis zu 80% unserer Tätigkeit abnehmen könnten, darunter Bereiche wie z.B. die harmonische Erfindung oder die Durchführung rhythmischer Gestalten, die wir noch vor kurzem als Teil unserer Kunst angesehen hatten.

Wie die Maler, die im Realismus des 19. Jahrhunderts den Gipfel des malerisch Möglichen erklommen zu haben schienen, die jede nur denkbare Variante des für Menschen Sichtbaren in ihre Bilder gebannt zu haben glaubten, und die plötzlich durch die Photographie all dies in fundamentaler Weise in Frage gestellt sahen, so müssen auch Komponisten ihren Beruf noch einmal auf`s Neue erfinden.

Selbstverständlich kann sich keiner von uns vorstellen, wie eine musique savante nach der Emanzipation alles Klingenden und seiner Algorithmisierung im Computer auch nur im entferntesten aussehen könnte - aber gerade im Nachsinnen über die Frage, ob es denn in 100 Jahren noch Komponisten geben werde, und wenn ja, was dieser Begriff dann bezeichnen werde, entstehen Gedanken, die schon jetzt jenes fin-de-millénaire Gefühl des "Anything goes" und "Alles ist schon erfunden" aus unseren Köpfen blasen könnten, das uns allzu oft die Lust am Komponieren zu nehmen droht.

punkt zu fläche zu körper

1. Was ist Komponieren, wenn es nicht das Erfinden eines musikalischen Werkes ist?
Diese Frage klingt nur scheinbar absurd. Tatsächlich definiert sich ja der Akt des Komponierens durch die Erfindung musikalischer Werke. Aber genau wie der Werkbegriff durch die Kompositionen der 1960er Jahre in Frage gestellt worden war, so stellt sich heute die Frage, was denn Musik noch mehr sein kann als das, was wir alle bis ins Detail zu kennen meinen. Und an dieser Frage hängt ganz wesentlich auch die Definition dessen, was Komponieren sei.

Ich möchte im Folgenden drei verschiedene Ansatzpunkte für meine kompositorische Poetik skizzieren: einen historisierenden, einen strukturellen und einen ästhetischen. Keiner der drei kann allein erklären oder wegweisen. Alle zusammen deuten in eine Richtung, in der ich das Komponieren im 21. Jahrhundert vermute - und wohl letztlich auch eine, in die ich mein eigenes Komponieren zu lenken versuchen werde.

2. Zyklen der Komplexitätswahrnehmung
Es gibt in der Musikgeschichte immer wieder Achsenpunkte, an denen ein Grad von Komplexität der Musik erreicht ist, der erstaunlich ist. In der abendländischen Musik könnte man z.B. die Spätzeit des ambrosianisch/gregorianischen Chorals mit seinen komplizierten Melismen und Tropierungstechniken nennen, den modalen Kontrapunkt des 16. Jahrhunderts, die spättonale Harmonik des beginnenden 20. Jahrhunderts - und auch unsere an Musikkonzepten so überbordende Zeit. Interessant ist, dass auf eine solche Zeit der nahezu undurchdringlichen Komplexität oft Musik folgt, die auf verschiedene Weise einfacher, klarer, durchschaubarer ist - auf die Choralkomplexität folgt das Organum, auf den Kontrapunkt die Monodie, auf die Spätromantik Webern und Strawinsky.

Der Vorgang scheint klar: nach schwerer Kost folgt leichtere. Aber das ist nicht alles. Denn wenn man ins Detail geht, lässt sich immer wieder ein bestimmter Übergangmodus feststellen, der die Beschaffenheit der "leichter" wirkenden Musik aus der vorigen generiert. Man könnte ihn die Technik des zeitlichen Blow-Up nennen.

Wie z.B. verhält sich ein Organum zu den Tropen des Chorals? Wie man weiß, sind Tropen fremde melodische Einschübe einer Stimme in den melodischen Verlauf eines Chorals. Im Choral wird ein bestimmter Ton als Orgelton ausgehalten, darüber entfaltet sich der Tropus. Bei diesem Ereignis entstehen Zweiklänge verschiedensten Konsonanzgrades, die aber nicht nach ihrer harmonischen Konsonanz aufeinander folgen, sondern in einer verwirrenden und komplexen Sequenz auf den Hörer einströmen, da sie nicht damals ohnehin unvertrauten harmonischen, sondern nur den inneren melodischen Gesetzen der tropierenden Stimme gehorchen.

In einer solchen Situation der Verwirrung entsteht nun ein wahrnehmungspsychologisch interessantes Phänomen: das der perzeptiven Dissoziation. Will sagen: Man erlebt die auf die eigene Wahrnehmung einströmenden Daten immer weniger als Teile eines in sich stimmigen Ganzen, sondern zunehmend als isolierte Einzelphänomene. Je umfangreicher diese Phasen der Verunsicherung sind, desto mehr klammert sich die Wahrnehmung sozusagen an wiedererkennbaren Kleineinheiten fest und ordnet sie nicht in einen größeren Zusammenhang ein.

Im Fall der Tropen löst sich die Melodie in eine Kette von Zusammenklängen auf. Quinten, Quarten, Terzen, Sekunden etc. Aus dem komplexen Fluss der Musik filtern sich isolierte Momente - und diese dienen nun wiederum als begriffliche Grundeinheiten, um die sich im Choralgesang anbahnende Über-Komplexität zu reduzieren - man beginnt schließlich, auch die Unterstimme zu bewegen - das Organum entsteht. Und warum sind in diesem Quinten, Quarten und Primen von übergroßer Dominanz? Weil sie unter den neuen Grundeinheiten die klanglich homogensten, einfachsten sind, jene, die dem alten melodischen Hören klanglich noch am ehesten entsprechen. Noch lange tönen in den frühen Organa die klanglichen Eigenschaften des Choralgesanges nach - bis diese neue Technik sich konzeptuell abgelöst hat und die Musiker in ihr eine eigene Qualität erkennen, die der Entwicklung des musikalischen Erklingens neue Wege erschließt.

Ganz ähnlich könnte man, mutatis mutandis, die Isolierung des terzbasierten Dreiklangs um 1600 skizzieren: auch hier wird das klangliche Erscheinungsbild der vielfach polyphonen Musik der Renaissance immer komplexer, die Einzelklänge isolieren sich in der Wahrnehmung immer mehr vom polyphonen Gewebe, in einigen Kompositionen z. B. Palestrinas oder Desprez' bewährt sich der terzbasierte Dreiklang in langen, reduziert polyphonen Passagen als das leichtverdaulichste und zugleich tragfähigste aller modalen Klangagglomerate - und wird so zur Basis einer neuen Klangsprache, die sich, wie wir am Generalbass erkennen können, noch lange als Steckling auf der alten Polyphonie empfindet, bevor sie eigenes Terrain fruchtbar besiedelt.

So fassen die Musikhörer immer größere Klangkomplexe zu einer perzeptuellen Einheit zusammen. Aus dem Terzdreiklang entsteht die Tonart, die funktionale Tonalität, aus dieser immer großartigere Architekturen aus vielen Tonarten, die Tonarten kollabieren zu komplexen mehrstimmigen Sept oder Nonakkorden, zu Ketten von Alterationen.

Am Anfang dieses Jahrhunderts spaltet sich die Entwicklung: So atmen bei Webern einzelne komplexe Klänge das ganze Aroma der spätromantischen hyper-tonalen Musik, verbirgt sich in einem Intervall/Rhythmuskomplex eine komplizierte Modulation. Stravinsky, Janacek und Mahler dagegen fassen nicht die tonale Harmonik als Basiseinheit auf, sondern die Tonfälle und Gesten tonaler Musik, reduzieren sie auf Basisgesten (ein Concerto in D nur aus Kadenzfloskeln bei Stravinsky, eine 9. Symphonie aus Appogiaturen und Trillern bei Mahler). Beide Ströme differenzieren sich aus: die Avantgarde der abstrakten Strukturen zum einen (Messiaen, Stockhausen, Boulez etc.), die Avantgarde der Klänge und Phoneme zum andern (Varese, Schaeffer, Cage, Ligeti etc.).

Wer heute ein Konzert mit zeitgenössischer Musik anhört, kann oft an sich selbst registrieren, wie auf's Neue die perzeptuelle Dissoziation angesichts komplexer Klangverläufe zu greifen beginnt - oft beruht die Musik nicht auf einzelnen Klängen als Basiseinheiten, sondern auf ganzen Tonsprachen, Stilzitate werden zum Kontrastmittel der Komponisten, aber auch man selbst hört klanglich komplexeste Verläufe zu kompositorischen Attitüden zusammen. Wir stehen offenbar erneut vor einem Sprung in eine weitere Komplexitätsreduktion - die man allerdings wohl kaum als "neue Einfachheit" begrüßen wird können.

3. Identität und Differenz
In der Wahrnehmung musikalischer Sachverhalte spielen die drei Kategorien Identität, Ähnlichkeit und Differenz wie überall eine ständig changierende Rolle. Identität (oder auch nur Entität, engl. entity) ist in der Musik wesentlich für die rhythmische, d.h. zeitliche Stabilisierung von Erfahrung, die Wiederholung von Entitäten erzeugt ein festes Gerüst, eine musikalische "Welt", in der sich die Komposition abspielt. Differenz stellt, nicht überraschend, ein Spannungsgefälle her, Kontraste und Varianten, an der Differenz ist Entwicklung zu messen. Ohne Differenz kein Fließen, ohne Fließen keine Musik. Ähnlichkeit schließlich ist das Maß der Differenz, das die Geschwindigkeit des Fliessens, seine Strömungsturbulenz benennt - und gegebenenfalls das katastrophale Abreißen der Strömung.

All das sind Binsenweisheiten der Wahrnehmung - aber sie erscheinen mir relevant im Kontext dessen, was ich ganz zu Anfang ausführte, der gegenwärtig problematischen Erfahrung der Grenzenlosigkeit nämlich.

Wodurch wird in den uns bekannten vormodernen Musiken der musikalische Fluss in Gang gehalten? Da gibt es zum einen den zu rezitierenden Text, der seine Spannungs-, Entspannungsphasen in sich trägt, und ohnehin als Text zur Musik ein extremes Differenzgefälle mitbringt. Dann gibt es, in der modalen Musik, die Differenz zwischen Zentralton und Melodieton, zwischen Melodieton und mikrotonaler Differenzierung und, in fortgeschrittener Modalharmonik, zwischen der Abfolge von Zentraltönen. In der tonalen Sprache schließlich ist letzteres Gefällesystem bis ins Feinste verästelt und erlaubt dem Hörer im Prinzip eine Art musikalischer Gravitationsnavigation über nahezu beliebig große Zeitdauern hinweg.

Aber neben diesen tonlichen Differenzen gibt es auch andere: Indische Musiker z.B. haben ein sehr feines Gespür für den genauen Ort eines musikalischen Ereignisses innerhalb eines rhythmischen Zyklus, und so kann man dort durch rhythmische Verwerfungen und Ab-schweifungen ähnliche Gravitationswirkungen wie in der tonalen Musik erreichen. Und selbstverständlich tragen auch Parameter wie Klangfarbe, Pulsation, Lautstärke, Tondauern, Ereignisdichte etc. zu diesem ständigen Spiel von Differenz und Entität bei.

Je näher wir an das Ende dieses Jahrhunderts kommen, desto bewusster und vielfältiger setzen Komponisten diese vielfältigen Mittel ein, ja es gibt, angefangen mit Schönbergs Orchester-stück "Farben" nicht wenige Werke, die sich der Erforschung der Bedeutung eines einzelnen Parameters für die Entstehung musikalischen Fliessens geradezu monomanisch widmen.

Genau in der Dominanz dieser intensiven Materialstudien liegt aber auch eine Gefahr, nämlich die, dass man über der Reduktion auf das Wesentliche die geistige Bedeutung von Wechsel-wirkungen außer acht lässt - Synergie-Effekte, im Guten wie im Schlechten.

Am deutlichsten machen sich solche Wechselwirkungen an Grenzflächen bemerkbar. Hier reibt sich z.B. die dynamische Entwicklung einer Phrase an ihren melodischen Spannungsverläufen. Oder spalten sich Kadenzrhythmik und harmonische Kadenz disparat auf. Solche Reibungen sind uns alle aus alter Musik vertraut.

Die Musik des 20. Jahrhunderts hatte zu Synergien dieser Art ein eher problematisches Verhältnis. Zum einen sicherlich, weil die Anzahl und Bandbreite der vom Komponierenden zu beherrschenden Parameter ständig zu wachsen schien, ohne dass man über explizite Erfahrungen mit deren Synergien verfügt hätte (und so zog man sich oft auf eine "experimentelle" Position zurück) - zum anderen aber vor allem wegen einer Krise der Bedeutungen von Identität und Differenz.

Denn wenn ein Grundgefühl die zeitgenössische Erfahrung bestimmt, so dieses, dass es keine Identität mehr gibt. Was ist der Mensch, wenn er nicht Intellekt ist, hatte ich vorhin gefragt - und nun könnte man weiterfragen, was ist seine Identität, wenn sie nicht Wieder-Erkennbarkeit bedeutet? Mit dem Verschwinden der Identität als greifbare psychologische Realität aber wird auch die Differenz zum Problem - denn nun ist alles Differenz. Nichts ist mehr das Eigene, alles ist fremd.

Mit diesem Problem kämpfen viele Partituren unserer Zeit. War noch vor nicht allzu langen Jahren ein wesentliches Problem des Komponierens jenes, was denn die eigene Sprache sei und wie man sie finde, so löst sich dieses Problem allein deshalb in nichts auf, weil es ja auch sonst nichts Eigenes mehr zu geben scheint.

Hier stoßen wir sehr direkt auf das Problem der Grenzenlosigkeit - denn so wie unsere Grenzen zur Welt immer unklarer werden, so werden ja auch die Grenzen anderer verwischt. Grundsätze unserer Kognition scheinen sich zu verflüchtigen, wenn wir die Welt nicht mehr als eine stabile Ordnung von Entitäten wahrnehmen können, deren Ähnlichkeiten und Differenzen untereinander und zu uns den Fluss unseres Lebens lenken.

So verflüchtigte sich auch in der Musik besonders nach dem 2. Weltkrieg das Gefühl für Entitäten immer mehr - ich behaupte sogar, diese Konfrontation mit der Unmöglichkeit, greifbare Identitäten in Musik zu setzen, sei der tiefste Grund für die ja anfangs ja doch extrem zögerliche Aufnahme dieser Musik durch das gebildete Publikum. Wer wie dieses den historischen Musikbegriff in sich trägt, der Musik als die komplexe Interaktion greifbarer Entitäten versteht, der musste ja ob der identitären Flüchtigkeit Neuer Musik verzweifeln.

Zu Beginn waren die Lösungen für dieses Problem noch typisch moderner Natur: man erfand Erklärungsmodelle, die man für eine Zeitlang als universell deklarierte - und die, genau betrachtet, Ideologien waren - ob die des Serialismus oder die neue Innerlichkeit, die spektrale Musik oder Klänge vom Sirius, postmoderne Tonalität oder die verschiedenen "Schulen" der elektronischen Musik. Immer gab es neben diesen vollmundigen Versprechungen vom Ende des Wirrwarrs das wirkliche Chaos der jeweils zeitgenössisch komponierten Musik, das sie Lügen strafte. Nein, es gibt schon lange keine Musik zu erfinden, die die Erkenntnis der bodenlosen Identität vergessen machen wollte und dennoch wahrhaftig bliebe.

Mithin stehen wir heute an einem Punkt, an dem wir uns fragen müssen, wie denn das Begriffspaar Identität und Differenz neu gefasst oder durch andere Kategorien ersetzt werden kann - wenn wir nicht Opfer künstlicher Identitätsversprechen, Fundamentalismen oder schlicht coole Zyniker werden wollen.

4. Hörhaltungen
"Was ist ein Klang? Wie soll man ihn hören? Wie etabliert sich Wahrheit in seiner Form? Wer erfasst ihn beim Hören richtig?"

Fragen solcher Art stellen wir alle seit Adorno an die Musik. Es sind Fragen, die sich universell und grundlegend vorkommen. Dabei ist nur die erste, die unbeantwortbare, wirklich grundlegend. Alle anderen sind schon heute erkennbar als Produkte eines ganz bestimmten kulturellen Umfelds: dem der abendländischen Musik des 20. Jahrhunderts. Der kulturelle Imperialismus dieses Abendlands findet seine letzte Ausformung im so genannten "Internationalen Stil der Avantgarde", der zum Beispiel Organisationen wie die ISCM (deutsch: IGNM) hervorgebracht hat, die sehr lange unverhohlen den ästhetischen "Anschluss" der Kompositionstechniken der Welt an die Musik Europas propagiert haben.

Aber zurück zu den obigen Fragen: Wer diese Fragen stellt, hat ganz bestimmte Vorstellungen davon, wie das Verhältnis zwischen Rezipient und Produzent in der Musik beschaffen sei: der Rezipient versucht, die Produkte des Produzenten zu verstehen und unterstellt ihnen eine inhärente Bedeutung, die es zu entschlüsseln gilt. Musikalische Kunstwerke sind codierte Informationen, die nur wenige richtige Lesarten, und nur eine wahre Haltung ihnen gegenüber zulassen: die der Andacht.

Diese kulturelle Prägung ist heute zwar dominant, aber deshalb nicht unbedingt zwingend: Musik hat in vielen Kulturen auch ganz andere Funktionen erfüllt als die des Gottesdienst-ersatzes. Dass sie diese Funktion hier hat, ist zwar unbestreitbar, aber ein Sonderfall. Musik kann man aber durchaus ernsthaft auch als Färbung der Atmosphäre, als akustisches Vexierspiel, als Aufforderung zur Bewegung, als Rhythmisierung des Alltags und vieles mehr erfahren. Das haben wir hier allzu oft vergessen. Und selbst wenn wir im engeren Bereich der so genannten musique savante bleiben, so erfordert indische Kunstmusik eine ganz andere Hörhaltung als chinesische, diese eine andere als die persische und arabische, und die italienische Oper eine andere als eine Werk von Olivier Messiaen. Es gibt keinen idealen Hörer einer Musik. Es gibt nur verschiedene Hörhaltungen, aus denen heraus Musik mit Aufmerksamkeit aufgenommen werden kann.

Spätestens in der Phase des stilistischen Überangebots müsste diese Tatsache den Komponisten bewusst werden: Das Rauschen im Kanal ist immer größer als die Modulation der Botschaft - und der Empfänger hat vielleicht nicht einmal den gleichen Decoder.

Eine andere Reihe von Fragen tut sich da dem neugierigen Komponisten auf:

"Wer hört was? Was macht für den Zuhörer diesen Klang aus? Welche Hörhaltung benutzt er? Was passiert, wenn mehrere Hörhaltungen aufeinander treffen?"

Es ist jene letzte Frage, die für mich den Horizont einer Musik des 21. Jahrhunderts aufreißt. Ihren Konsequenzen möchte ich im letzten Teil meines Vortrags nachgehen.

an der grenze der sprachen

Vier Fragen habe ich im letzten Abschnitt gestellt, ohne auch nur den Schimmer einer möglichen Antwort zu geben:

1. Was passiert, wenn mehrere Hörhaltungen aufeinandertreffen?

2. Wie kann das Begriffspaar Identität und Differenz neu gefasst oder durch andere Kategorien ersetzt werden?

3. Welche Art von Komplexitätsreduktion wird das Komponieren hervorbringen?

4. Was ist Komponieren, wenn es nicht das alleinige Erfinden eines musikalischen Werkes ist?

Diese Fragen jetzt beantworten zu wollen, wäre vermessen. Ich bin allerdings davon überzeugt, dass keine dieser Fragen in Zukunft wirklich zu umgehen sein wird. Genauso klar ist es, dass nicht theoretischer Diskurs, sondern nur praktische komponierende Tätigkeit sie beantworten wird.

Dennoch ist es nicht müßig, diese Fragen zu analysieren. Es ist nicht zu übersehen, dass ich sie für verschiedene Aspekte derselben Krise halte, die uns alle beutelt.

1. Was passiert, wenn mehrere Hörhaltungen aufeinander treffen?
In letzter Zeit häufen sich auf dem Musikmarkt merkwürdige Projekte: so kam es letztes Jahr zum Beispiel zu einer CD namens "Mozart in Egypt". Dort wurde mit den Mitteln des Tonstudios Musik Mozarts mit klassischer ägyptischer Musik konfrontiert. Im Gegensatz zu sonstigen East-meets-West Versuchen wurde hier kein Gemenge angeboten, sondern einzelne Phrasen reiner Mozart-Musik mit einzelnen Phrasen ägyptischer Musik verkettet, nur ganz selten überlappend montiert. Allerdings, und das war das raffinierte, waren diese Phrasen nicht immer gleich lang, man konnte sich also nie auf eine dieser Musiken oder ihren Wechsel einrichten. Interessant war, wie sich dabei das Hören veränderte, es bildeten sich emotionale Brüche, aber auch Spannungsbögen über die Stilgrenzen hinweg. Besonders interessant waren aber die Momente des Umschlagens der einen Musik in die andere - weil es ein Projekt populärer Musik war, hatte der Komponist alles getan, um diesen Übergang zu glätten - und dennoch verspürte ich bei jedem Wechsel einen Ruck wie sonst z.B. bei einer plötzlichen Dissonanz und ihrer Auflösung.

Im Ganzen war dieses Projekt musikalisch nicht sehr erfolgreich - aber folgenreich könnte es werden. Denn darin klingt ein Aspekte an, deren Bearbeitung in den nächsten Jahrzehnten wesentlich sein dürfte: die Tatsache, dass man sich einen Stil nicht anverwandeln muss, um mit ihm zu arbeiten.

So vermeidet man eines der wesentlichsten Handikaps des Multikulti-Potpourris: Dass nämlich nicht das Eigentliche der einen Kultur in die andere einfließt, sondern das am leichtesten aus ihr lösbare. Wenn Debussy vom Gamelan nur die Tonleitern hernimmt, begreift er ihn mit abendländischen Ohren - lässt aber einen seiner stärksten Punkte, die ganz andere Organisation des Ensemblemusizierens, unbeachtet. Solche Anverwandlungen unterscheiden sich nicht wesentlich von denen der Abenteurer, die aus heiligen Statuen die Edelsteine herausbrachen und sie in London vom Goldschmied neu fassen ließen. Jede Kultur ist ein komplexes Gebilde, und man gewinnt wenig, wenn man sie nur ausschlachtet. Erkenntnisreich dagegen sind ästhetische Montagen - nicht nur weil sie uns anders hören lehren, sondern weil sie auch eine andere Weltwahrnehmung - und nichts anderes heißt ja Aisthesis - neben der eigenen erfahrbar machen: Und gerade Musik, deren semantische Ebene sich nicht im Vordergrund, sondern eher an ihren Rändern bewegt, uns also nicht mit "political correctness" belästigt, würde einen solchen Prozess in Würde ermöglichen.

2. Wie kann das Begriffspaar "Identität" und "Differenz" neu gefasst oder durch andere Kategorien ersetzt werden?
Vieles in der Musiktheorie des 20. Jahrhunderts zielt auf eine Fiktion - nämlich die der individuellen Musiksprache. Manchmal geht man sogar noch weiter und postuliert für jedes Werk ein in sich stimmiges Materialkonzept. Diese Betrachtungsweise - die auf Beethoven zurückgeht - große Musik entwickele sich aus einem minimalen Materialvorrat zu größter Diversifizierung, hat in den letzten fast 200 Jahren merkwürdige Blüten getrieben: Begriffe wie Stilreinheit, Authentizität, Personalstil etc. besetzten den Diskurs, der auch das Denken der Komponisten bestimmt. Verknüpft mit einem amerikanischen Cowboy-Individualismus ("Do your own thing!") führte das dazu, dass von Künstlern immer wieder ein ganz persönlicher Ausdruck erwartet wurde, eine persönliche Musikrevolution ersten Ranges.

Dass das eine Projektion ist, scheint evident: das bürgerliche, urban-intellektuelle Individuum, das in den modernen Gesellschaften immer weniger ein freies ist, dessen soziale Zwänge gleichzeitig intensiver und ungreifbarer werden, projiziert in diejenigen, die einen größeren Freiraum zu haben scheinen, Künstler, Komponisten, Abenteurer all jene Ansprüche an Unabhängigkeit, die man selbst nicht erfüllen kann: In seiner Radikalität lebt der Künstler die verhinderten Freiheiten des Individuums stellvertretend vor. Aus diesem Grund werden auch in der Kunst die Radikalen und die Revolutionäre für so wichtig gehalten. Jene, bei denen die Differenz zum Konventionellen am größten zu sein scheint.

Aber es ist bekannt, dass Revolutionen reaktionär sind und Radikales oft nur Reiz ist und wenig Substanz. Und es ist mittlerweile eine Binsenweisheit, dass es oft die kleinen, fast unmerklichen Abweichungen vom Gewohnten sind, die langfristig große Änderungen bewirken.

Auch wir Komponisten wissen, dass oft die minimalste Variante innerhalb eines musikalischen Flusses diesen in ganz neue Bahnen lenken kann. Und wir wissen auch, dass die wirklichen Zusammenhänge innerhalb einer Komposition oft nicht die sichtbaren und mit den herkömmlichen Methoden der Musikanalyse begreiflichen sind. Warum wenden wir dieses Wissen nicht auch auf unser Verständnis von Gesamtkonzeption, Stilfragen und innerer Wahrheit an?

Die Zeit der präskriptiven Gedankengebäude ist vorbei. Sie fördern kein hilfreiches Verstehen von Identität und Differenz, sondern stellen Ersatz-Identitäten und Ersatz-Differenzen auf, die ästhetische Faulheit fördern. Es gibt keine Authentizität außer derjenigen, die sich unablässig verändert.

Dies allerdings eröffnet der Ästhetik neue Aufgabenfelder: War ihre bisherige Aufmerksamkeit stets auf die Identifikation ästhetischer Entitäten gerichtet, so geht es nun darum eine Ästhetik der Konglomerate, Collagen und Mischungen zu finden. Wir müssen uns mit den Realia auseinander setzen: Wenn selbst in der Mathematik so klar umrissene Konzepte wie das der Dimension (also Linie, Fläche, Körper), Ideen mit scheinbar unauflöslich klaren Grenzen, nun ins Schwimmen geraten und man von 1.4- oder 2.62-Dimensionalität sprechen kann, sollte auch die Ästhetik zu einer Betrachtungsweise kommen, die nicht nur Formen und die Sprachen der Kunst in reine und gemischte einteilt (und die gemischten dabei stets als minderwertig ansieht), sondern die sich darum bemüht, das Wie, Warum und Wo solcher Mischungen genau zu fassen. Wir brauchen eine Ästhetik der Melange, die das, was Künstler tun, nicht abstrahiert, sondern in seiner ganz eigenen Qualität erkunden und beschreiben kann - Ästhetik als differenzierende Wahrnehmung der vielfach rational-irrationalen, jedenfalls selten integralen Dimensionenzahl jeden Kunstwerks.

3. Welche Art von Komplexitätsreduktion wird das Komponieren hervorbringen?
Vielleicht sollte ich das Wort "Komplexitätsreduktion" noch erläutern, damit man es nicht mit Simplizität verwechseln kann: Ich meine damit den Übergang von einer Ebene, auf der Dinge komplex sind, zu einer, auf der diese Komplexität eingekocht aufscheint, als Element eines größeren Zusammenhangs. Komplexitätsreduktion heißt nicht Aufgabe von Komplexität, sondern ihre Bewältigung durch Rahmenbedingungen, die der menschlichen Wahrnehmung erlauben, diese Komplexität als Subsystem eines anderen Systems zu sehen.

In der Musik, die kommen wird, sehe ich diesen Vorgang vor allem im Bereich der Großform: Wir schauen auf eine unergründliche Fülle von Details auf allen Ebenen der Musik, von der Betrachtung des einzelnen Samples bis zu den verschiedenen musikalischen Hochkulturen - aber noch haben wir keine übergeordnete Metasprache entwickelt, die unter diesen Details sinnvoll vermitteln könnte.

Diese Metasprache wird nicht eine monolithisch einzelne sein, auch universalistische Wunschträume verbinde ich nicht mit ihr. Vielmehr sehe ich sie als eine Art Grammatik - Grammatiken zeichnen sich ja im Unterschied zu logisch geschlossenen Systemen durch ihre Fähigkeit aus, auch Ausnahmen und vor allem logische Widersprüche in verschiedenen Teilen des Systems existieren zu lassen - und trotzdem ein verständliches Gebilde zu erzeugen. Wenn man so will, möchte ich, dass die Komponisten lernen, die musikalischen Strukturmodelle, die ihnen vertraut sind, nicht als grundlegend zu betrachten, sondern als Oberfläche - die wirkliche Struktur ist eine Tiefengrammatik, an der zu arbeiten eine Aufgabe der Zukunft sein wird.

4. Was ist Komponieren, wenn es nicht das alleinige Erfinden eines musikalischen Werkes ist?
Mit allen vorigen Fragen bleiben wir im Bereich dessen, was wir derzeit vom Komponieren sagen können - dass es nach bestimmten Kriterien Klänge ordnet und diese zu einer mehr oder minderen offenen Struktur zusammenstellt, die anderen ermöglichen soll, wiederum Klänge zu reproduzieren.

Seit Komponisten Spezialisten sind, haben sie ihre Tätigkeit immer deutlich abgegrenzt von der des Interpreten, selbst wenn sie beides in Personalunion waren. Komponieren sei, ähnlich wie literarisches Schreiben, eine solitäre Angelegenheit: ich und mein magnum opus. Wenn es wahr ist, dass Selbsterkenntnis durch Spiegelung geschieht, dann sei die Partitur der treueste Spiegel der Komponierenden.

Abgesehen davon, dass diese Ansicht vom Komponieren nicht eine uralte, sondern eine Facette des Geniekultes des 19. Jahrhunderts ist, also wieder einmal nicht universell anwendbar, ist auch höchst fraglich, ob sie denn jemals so gültig war. wir alle wissen um tausende von Umständen praktischer, aber auch musikalischer Natur, die in jede Komposition einfliessen - vom Geld bis zu speziellen Fähigkeiten eines ganz bestimmten Interpreten. Die einsame, unbeeinflusste Arbeit des Komponisten ist eine Fiktion.

Allerdings eine für Komponisten schädliche. Was noch für Beethoven selbstverständlich war, nämlich nach den ersten Aufführungen ein Werk gravierend zu bearbeiten, ist unter den Vorzeichen dieser Fiktion nur schwer denkbar - hat denn der Komponist sich so wenig erkannt? Lügt er sich selbst in die Tasche? Weiß er nicht, was er will? Seit es für die Massen keine religiösen Heiligen mehr gibt, haben Künstler ihre Funktion übernommen - mit allen negativen Begleiterscheinungen: Heilige müssen radikal, an Praxis desinteressiert und vor allem frei von Irrtum sein. Noten sind fast so bindend wie göttliches Wort.

Mit dem Aufkommen des Computers wird sich all dies ändern. Noten werden zu ephemeren Verständigungssignalen auf Bildschirmen, Änderungen am Werk werden durch Parameter in Echtzeit steuerbar und müssen nicht vom Komponisten vorgenommen werden. Niemand weiß mehr genau, wer entschieden hat, dass dieser Klang an dieser Stelle erscheint. Ist eine Computermusik auch sakrosankt? Und wenn ja, was an ihr? Ihr Programm, das man alle paar Jahre neu kompilieren muss, damit es von den neuen Computern noch gelesen werden kann? Jede neue Kompilation verändert das Programm - und sei es nur, dass es die Musik schneller oder mit mehr Klangtiefe berechnet: Der Werkbegriff ist im Fließen. Der Begriff des Autors ebenfalls.

Wenn das romantische Bild dem Komponisten schadet, wem nützt es dann? Den Konzertveranstaltern und Kulturmanagern. Denn für sie ist die Fiktion, dass ein Werk mit der ersten Niederschrift der Partitur "fertig" sei, die Basis dafür, dass sie es genauso wie das Werk eines toten Komponisten behandeln können - und das wiederum heißt: kurze Probenzeiten, nicht den Ansatz eines vielleicht anderen Vorgehens für die Einstudierung. Anders als noch in vielen Theatern, wo der Prozess des Einstudierens, Probens eine Periode intensivster künstlerischer Mit-Kreation ist, gibt es das in musikalischen Bereich sehr selten. Im Gegenteil: je etablierter der Veranstalter, desto weniger Probenzeit (d.h. ja auch Erprobungszeit) gesteht er einem frisch geschriebenen Werk zu. Und gefährdet auf diese Weise Existenz und Fortentwicklung des Komponierens überhaupt.

Die Fiktion vom einsamen Genie muss verschwinden, wenn nicht die Tätigkeit des Komponierens verschwinden soll. Künftige Generationen werden noch viel mehr als das heute schon geschieht, nicht im Papier ihr Ebenbild suchen, sondern im erklingenden Raum des Computers, in der monatelangen Gruppenkomposition, in der jahrelangen Erforschung des Wechselspiels zwischen Interpret und Rechenmaschine.

All dies steht an. Scheuen und abstreiten hilft nicht. Wenn es im 21. Jahrhundert noch Neue Musik geben soll, dann müssen wir alle uns all diese Fragen immer wieder stellen.

Neewiller, März 1999


1
Mein erster Teil ist zu Tode getroffen
Mein zweiter bürstet sich inzwischen
Mein dritter sammelt Kerne auf
Wird geschlagen von meinem vierten
Und mein ganzes sagt: „Ich bin der gute Richter."


Nachweise

"Fugen und Fluchten"
Symposionsbeitrag zum Symposion "Flucht"
Klagenfurt1993

"Musik - eine Weltsprache?"
Polemik für "X-Change" -KulturForum ausländischer Mitbürger
Düsseldorf 1996

"Ritual Virility Machine"
Programmhefttext zur Uraufführung des gleichnamigen Orchesterwerkes
München 1998

"Oper ist Subkultur"
Erstveröffentlichung im Programmbuch des Staatstheaters Darmstadt
Darmstadt 1998

"Wahrheit für Komponisten"
Symposionsbeitrag zum Symposion "Wahrheit in Musik und Theater"
Frankfurt a. M. 1998

"Komponieren im 21. Jahrhundert"
Vortrag am Institut für Elektronische Musik Graz
Graz 1999


Curriculum Vitae - SANDEEP BHAGWATI

1963 in Bombay (Indien) geboren als Sohn einer deutschen Mutter und eines indischen Vaters

1968 Umzug der Familie nach Deutschland

ab 1976 Unterricht in Klavier und Musiktheorie

1982 Abitur am Athenaeum Stade

1982-84

Zivildienst am DRK-Altenheim Stade

Studien:

1984-87: Studium in Chor- und Orchesterleitung, Musiktheorie und Komposition am Mozarteum Salzburg u.a. bei Boguslaw Schaeffer, Kurt Prestel, Walter Hagen-Groll, Kurt Maedel, Josef Maria Horvath und Rupert Huber

1987-90 Kompositionsstudium an der Musikhochschule München bei Wilhelm Killmayer

1990-93 Meisterklasse bei Wilhelm Killmayer und Hans Jürgen von Bose

1991 Sommerkurs der Musikfestspiele Luzern bei Edison Denisov

1995/96 Cursus d'informatique musicale am IRCAM Paris (Tristan Murail, Brian Ferneyhoug)

Berufliches:

Seit 1988 etwa 20 Sendungen für verschiedene deutsche Radiosender zur zeitgenössischen Musik (Analysen, Essays, Gespräche, Komponistenportraits)

Seit 1989 Veröffentlichung diverser Texte (Analysen, Essays, Gespräche) in verschiedenen Büchern und Katalogen

1989-91 Künstlerische Leitung und Organisation der Konzertreihe "KammerMusikUtopien" im Kulturzentrum Gasteig in Zusammenarbeit mit der Volkshochschule München

1990 Gründung (mit Moritz Eggert) des Festival A*DEvantgarde, das zweijährlich Musik der jungen Komponistengeneration zwischen 25 und 30 vorstellt. Seither künstlerische Leitung und Organisation von drei Festivals.

1990-92 Leitung (mit Gerd Kühr) der von Hans Werner Henze installierten "AmateurKomponistenWerkstatt" der Münchener Biennale für zeitgenössisches Musiktheater

1993 und 1997 Leitung von Musiktheater-Kompositionsworkshops für Schulkinder in London zusammen mit dem Ondine Ensemble London

1995 und 1996 Arbeit im Vertrieb von BMG Classics (RCA, deutsche harmonia mundi, Catalyst)

1997/98 Gastkomponist am IRCAM/Centre Pompidou Paris

1998/99 Gastkomponist am Institut für Elektronische Musik Graz

1998 Gastkomponist am ZKM (Zentrum für Kunst und Medientechnologie) Karlsruhe

Kompositionen, Aufträge, Projekte (Auswahl)

1987 "Des Menschen Pilgerfahrt"
Oratorium für Chor, Sprecher und Orchester
(Auftrag des Erzbistums Klagenfurt-Gurk zur Weihe der neuen Kirche zu Tanzenberg)
UA durch den Tanzenberger Knabenchor und ein Ensemble des Mozarteums Ltg: Julius Jost
1987 Tanzenberg

1990 "Collages - Hommage à Jasper Johns"
Konzert für Cembalo, Percussion
und 13 Streicher
(Auftrag des Festival A*DEvantgarde 1991)
UA durch das Junge Philharmonische Orchester Stuttgart
Ltg: Manfred Schreier. Solist: Friedemann Winklhofer; 1991 München

1991 "Variations" I. Streichquartett"
(Europäischer Kompositionspreis der Akademie der Künste Berlin)
UA durch das Sonare Quartett; 1992 Lingen

1992 "Agni or 45 Modes of Easy Listening"
für zwei Klaviere
UA durch Moritz Eggert und Martin Zehn; 1992 München

1993 "Exterritorial I-III"
Drei Werke:
I "Flucht/Fremde" für Trio basso
II "Still Allein" für Bariton
und Instrumentalensemble
III "Finisterre" für Chor und Orgel.
UA durch:
I Trio Basso Köln; 1993 München
II Roderick Williams und Ondine Ensemble London Ltg: Sandeep Bhagwati; 1993 London
III Elisabeth Zawadke und den Kammerchor Kiew Ltg: Mykolai Hobdytch; 1993 München

1993 "Tag"
Sinfonia sacra für drei Sänger, Chor, Orchester und Elektronik
(Unterstützt durch ein Stipendium des Freistaates Bayern)
noch nicht aufgeführt

1993-95 "Cantus ad ventum"
'Performance' in einem Alpental
mit slowenischen und deutschen Kirchenchören, dem Ensemble "Hortus Musicus" und drei Heißluftballons.
Daraus enstanden eine Tonbandkomposition und ein Videofilm. UA 1995 München
(Auftrag des Festival IntArt "Alpen" Klagenfurt)

1994 "Quênâh - Szenen einer Katastrophe"
Musiktheater a cappella über den Krieg in Bosnien
(Auftrag des Festival Orlando di Lasso Munich und der Bayerischen Akademie der Schönen Künste München ).
UA durch das Vokalensemble ScenAria Ltg: Alexander Zimmermann
Regie: Gil Mehmert; 1994 München

1994 "Dornenstück"
für Klavier zu 4 Händen
(Auftrag von Radio Saarbrücken)
UA durch das Duo Tal/Groethuysen; 1994 Saarbrücken

1995 "Mind the Gaps"
'Performance' für Sängerin, Sprecher,12 Bewegungsmelder, Licht- und Rauminstallation und Elektronik
(Auftrag des'"Offenen Kulturhauses Linz")
UA durch Eva Maria Kuhrau, Sandeep Bhagwati und die Ateliers des "Offenen Kulturhauses Linz"; 1995 Linz

1995 "alaam al mithral" II. Streichquartett"
(Auftrag der Bayerischen Akademie der Schönen Künste München)
UA Berner Streichquartett; 1995 München

1995 "Schnee"
'Performance' für Schauspielerin, Sängerin, Alphorn, Hackbrett, Akkordeon, Video, Geräusche und Rauminstallation
UA durch Ruth Geiersberger, Martina Koppelstetter, Marianne Kirch und Mike Svoboda unter der Leitung des Komponisten; 1995 München

1995 "Katarakt Meer Katarakt"
für Sopran, Percussion und Streichquartett
(Auftrag der Freunde der Bayerischen Staatsoper)
UA Eva Maria Kuhrau,
Musiker der Bayerischen Staatsoper
Ltg: Sandeep Bhagwati; 1996 München

1995 "Macht Masse Mensch"
Musiktheater nach Elias Canetti
Libretto: Gunna Wendt
Mus. Leitung: Fabrice Bollon
Regie: Claus Guth;
Bühne und Kostüme: Christian Schmidt
Auftrag und Produktion der Bayerischen Staatsoper im Marstall; 1996 München

1996 "chants translucent ephemeral"
für Chor (und Elektronik ad. lib.)
(Auftrag des Südfunkchors Stuttgart),
UA, SWR-Vokalensemble, Ltg.: Rupert Huber; 1999 Stuttgart und Karlsruhe

1996/97 "Three Women Trois Femmes Drei Frauen"
Musik-Theater-Installation für Schauspielerin, Sängerin und Cellistin
und Live-Computer-Environment nach eigenen Texten
UA, 1997 Paris
Espace Projection des Ircam/Centre Pompidou
Sylvie Grégoire, Elisabeth Baudry und Elena Andreyev
Inszenierung, Video, Licht, Computer: Sandeep Bhagwati

1998 "Ramanujan"
Oper über den genialen indischen Mathematiker Srinivasan Ramanujan (1887 - 1920)
Libretto, Computerprogramme:
Sandeep Bhagwati
(Auftrag der Landeshauptstadt München für die Biennale für zeitgenössisches Musiktheater 1998 in Koproduktion mit dem Hessischen Staatstheater Darmstadt und dem Ircam/Centre Pompidou Paris)
UA 21.4.1998 Prinzregententheater München
Regie und Bühne: Johannes Schütz

1998 "Ritual Virility Machine"
für großes Orchester
UA 27.4.1998 Philharmonie München Münchener Philharmoniker,
Ltg: Bernhard Klee

1998 "no body no cry"
Hörspiel -Performance
realisiert am
Institut für Elektronische Musik Graz
UA als Installation: 12.6.1999 Neues Theater München

1998 Musik zu "Die Jungfrau von Orleans" (Schiller)
Deutsches Theater Berlin
Regie: Jürgen Gosch
UA 21.9.1998 Berlin

1998 Musik zu "Die Bakchen" (Euripides)
Toneelgroep Amsterdam
Regie: Jürgen Gosch
UA 21.11.98 Amsterdam

1999 Texte und Computerprogramme zu "Die Gesänge der Ghat-Biwa"
Eine Performance aus "chants translucent ephemeral"
am 3.2.99 in Stuttgart (Teil1)
und am 6.2.99 in Karlsruhe (Teil 2)
Akteure: Jürgen Holtz, Rupert Huber
in Zusammenarbeit mit dem ZKM Karlsruhe
Licht/Video/Inszenierung/Live-Elektronik: Sandeep Bhagwati
SWR-Vokalensemble Stuttgart, Ltg:Rupert Huber

In Arbeit:
1999 "Valses urbaines et romantiques" für Streichtrio
UA Gideon Klein Trio, 1999 Berlin

1999 "swarm" III.Streichquartett
UA Pellegrini-Quartett, 2000 Bonn

1999 "stroboscopic arias"
MusikTanzTheater für einen Tänzer, einen Sänger, einen Kontrabass
UA 2000 Ulm

2000 "X-Wege"
12 Multimediainstallationen für das Stadthaus Ulm
In Zusammenarbeit mit dem Stadthaus Ulm, dem European Music Project und dem ZKM Karlsruhe (angefragt)

2000 "Entrances"
für großes Orchester
(Auftrag des Orchesters der Beethovenhalle Bonn)
UA 17.6.2000 Beethovenhalle Bonn

2000 "three body problems"
Abend mit den experimentellen Musiktheaterwerken "Three Women", "no body no cry", "stroboscopic arias", Regie, Choreographie, Videos, mus. Ltg: Sandeep Bhagwati


Preise und Stipendien:

1991 Europäischer Kompositionspreis der Akademie der Künste Berlin

1992 Kompositionsstipendium der Stadt München

1993 Graduiertenstipendium des Freistaates Bayern

1993 Förderpreis der Ernst-von- Siemens Stiftung (für A*DEvantgarde)

1994 Tanz/Theaterstipendium der Stadt München (für Quênâh)

1995 Einladung zu einem Studien- und Arbeitsaufenthalt am Ircam Paris

1995 Aufenthalt an der Cité Internationale des Arts Paris

1997 Aufenthaltsstipendien der Stiftungen Royaumont und Pour Que L'Esprit Vive (Abbaye de Royaumont und Abbaye de La Prée) sowie erneuter Aufenthalt an der Cité des Arts Paris

1998 Arbeitsstipendium des ZKM Karlsruhe


© 2000, zuletzt geändert am 11.2.2005


Last modified 22.02.2005